Moikka! 👋🏼 Und willkommen zurück zu meiner Suche nach Sisu! 🪄 Für meinen dritten Blogartikel durfte ich mit der Frau sprechen, die wie kaum eine andere weiss, was hinter Sisu steckt: Dr. E. Elisabet Lahti hat als erste einen wissenschaftlichen Zugang zu dieser inneren finnischen Kraft entwickelt. Doch ihre Verbindung zu Sisu ist viel mehr als theoretisch: Sie lebt Sisu – etwa als sie in 50 Tagen 2’408 Kilometer zu Fuss und auf dem Fahrrad durch Neuseeland zurücklegte, um ein Zeichen gegen häusliche Gewalt zu setzen.
Im Gespräch erzählte sie, warum Sisu mehr ist als Durchhalten, warum Sanftheit dazugehört – und wie wir alle dieser Kraft in uns näherkommen können, wenn wir bereit sind, ehrlich hinzusehen.
Liebe Elisabet, erinnerst du dich an deinen ersten bewussten Berührungspunkt mit Sisu?

Ich erinnere mich daran, Sisu das erste Mal als Begriff bewusst wahrgenommen zu haben, als ich an der University of Pennsylvania eine Vorlesung von Angela Duckworth besuchte. Sie sprach über verschiedene ausländische Konzepte. Diese wurden nicht weiter erklärt, aber es hat mich sofort neugierig gemacht. Auf der Heimfahrt schrieb ich ihr direkt eine Nachricht: «Kennst du eigentlich Sisu? Und hast du dich damit mal beschäftigt?»
Was den allerersten persönlichen Kontakt zu dieser inneren Kraft betrifft – das ist schwer zu sagen. Sisu war vermutlich immer da, ohne dass ich es bewusst wahrgenommen habe. Es ist vergleichbar mit der Liebe. Vielleicht war es also Sisu, als man sich als Kleinkind traute, die ersten Schritte zu gehen, sich etwas weiter von der Mutter zu entfernen und so eine Art Grenze zu überschreiten.
Aber als mir wirklich bewusst wurde, dass das mein Sisu ist, das geschah schrittweise – besonders nach dem Ende einer gewaltvollen Beziehung. Erst da habe ich angefangen zu erkennen: Das war Sisu. Und das auch. Von da aus hat sich dann auch meine Forschung entwickelt.
Du forschst seit Jahren zu Sisu. Was hat dich persönlich so sehr daran fasziniert, dass du dich wissenschaftlich und menschlich damit beschäftigt hast?
Mich hat Mut schon immer fasziniert – besonders die Art von Mut, die leise, aber kraftvoll ist. Ich bin jemand, der sich Herausforderungen eher stellt als ihnen auszuweichen, und genau deshalb hat mich Sisu von Anfang an berührt. In einer der schwierigsten Phasen meines Lebens war dieses Konzept plötzlich nicht nur ein Wort, sondern ein echter Anker. Es hat mir geholfen, Werkzeuge zu finden, mit denen ich überhaupt erst lernen konnte, mit Schmerz, Unsicherheit und innerem Chaos umzugehen.
Seit 2012 begleitet mich Sisu nun – mal intensiver, mal leiser. Es gab Momente, in denen ich dachte: Vielleicht habe ich alles dazu gesagt. Aber dann kam es mit neuer Tiefe zurück. Ich habe erkannt, dass es nicht nur um Durchhaltevermögen geht, sondern um eine tiefere Kraft des Lebens selbst.
Für mich ist Sisu ein Weg – ein Pfad, auf dem wir wachsen, uns selbst besser kennenlernen und Stück für Stück mehr zu dem Menschen werden, der wir wirklich sind. Es geht darum, Stärke und Sanftheit miteinander zu verbinden. Wie eine innere Kampfkunst, die nicht auf Sieg aus ist, sondern auf Integration. Deshalb bleibt Sisu für mich nicht nur ein Forschungsthema, sondern etwas, das ich täglich lebe.
Du hast vorhin Mut angesprochen. Kannst du erklären, ob und wie sich Sisu für dich von ähnlichen Konzepten wie Resilienz, Willenskraft oder Mut unterscheidet?
Das ist eine wichtige Frage – denn Sisu wird oft mit Konzepten wie Resilienz, Willenskraft oder Mut gleichgesetzt, obwohl es sich in einigen zentralen Punkten unterscheidet. Die anderen Konzepte sind in der Psychologie als sogenannte «nicht-kognitive Eigenschaften» bekannt. Sie beziehen sich auf mentale Prozesse wie Zielstrebigkeit, Durchhaltevermögen oder die Fähigkeit, sich nach Rückschlägen zu erholen.
Sisu geht aus meiner Sicht noch weiter. Es ist kein dauerhafter Zustand, sondern etwas, das sich in Momenten zeigt oder aktiviert, in denen es besondere Anpassungsfähigkeit braucht – in denen wir über uns selbst hinauswachsen müssen.

Ich vergleiche es gern mit einem Marathon: Irgendwann kommt der Punkt, an dem du glaubst, nicht mehr weiterzukönnen. Deine Energiespeicher sind leer, der Körper will stoppen. Und genau dann – wenn du trotzdem noch einen Schritt machst – das ist Sisu. Kein Zustand, in dem wir ständig leben, sondern ein Moment, auf den wir zugreifen können. Eine innere Reserve, die uns über uns hinauswachsen lässt.
Sisu ist eine Form von «embodied fortitude» – also verkörperter Widerstandskraft – ein Potenzial, das in uns allen steckt und sich dann zeigt, wenn wir es am meisten brauchen.
Gibt es einen Moment in deinem Leben, in dem du selbst besonders viel Sisu gebraucht hast? Was hat dir damals geholfen, dranzubleiben?
Es gab viele Momente in meinem Leben, in denen ich Sisu gebraucht habe – mein Weg fühlt sich manchmal an wie eine einzige Sisu-Reise. Ich bin von Natur aus jemand, der sich auch schwierigen Erfahrungen öffnet. Herausforderungen schrecken mich nicht ab, im Gegenteil: Ich begegne ihnen mit Offenheit und Neugier.
Der prägendste Moment war wohl der Ausstieg aus einer gewaltvollen Beziehung – das ist inzwischen fast 15 Jahre her. Damals ging es nicht nur ums Weitermachen – sondern darum, wieder in Verbindung zu kommen: mit mir selbst, mit meinem Körper, mit meinem innersten Vertrauen ins Leben und in andere Menschen. Wenn wir an einem Ort verletzt werden, an dem wir eigentlich sicher sein sollten, hinterlässt das tiefe Risse. Es erschüttert unser Grundvertrauen – und oft beginnt man zu zweifeln, ob man überhaupt liebenswert ist.
Später bin ich dann auch körperlich an Grenzen gegangen, als ich in 50 Tagen 2’408 Kilometer laufend und mit dem Fahrrad quer durch Neuseeland zurücklegte. Das war herausfordernd – und gleichzeitig eine tägliche Erinnerung daran, was in uns steckt, wenn wir dranbleiben.
Und trotzdem würde ich sagen: Die grössere Leistung war, wieder fähig zu sein zu lieben. Mich auf echte Verbindung einzulassen – das ist für mich die tiefste Form von Sisu. Denn letztlich betrifft das uns alle: Die Zukunft hängt davon ab, ob wir den Mut aufbringen, uns auch den Teilen in uns zuzuwenden, vor denen wir eigentlich weglaufen möchten. Sisu bedeutet für mich genau das – nicht aufzugeben, wenn es schwer wird. Sondern dranzubleiben. Und mit offenem Herzen weiterzugehen.
Was ist für dich schwieriger: den ersten Schritt zu machen oder dranzubleiben?

Ich glaube, mir fällt es etwas leichter, den ersten Schritt zu machen, vor allem wenn ich spüre, dass etwas mich wirklich ruft. Wenn die Intuition klar ist, gehe ich auch dann los, wenn der Weg unmöglich scheint.
Aber auch das Dranbleiben liegt mir. Wenn ich zwischen Sisu und einer eher langfristigen, beharrlichen Zielstrebigkeit unterscheiden müsste, würde ich sagen: Sisu liegt mir näher. Denn Sisu zeigt sich genau dann, wenn wir nicht zurückweichen, sondern an Herausforderungen wachsen.
Gerade wenn mir etwas unmöglich oder ungerecht erscheint, zieht es mich eher hin als zurück. Deshalb lässt sich die Frage nicht eindeutig beantworten. Sisu wirkt für mich in beiden Momenten – als Entschlossenheit für den ersten Schritt und als Kraft, um auf dem Weg zu bleiben.
Gibt es einen Duft, ein Lied oder ein Ort, der für dich nach Sisu riecht, klingt oder sich anfühlt?
Was für eine schöne Frage – und tatsächlich hat sie mir in all den Jahren noch nie jemand in dieser Form gestellt. Das berührt mich, weil es zeigt, dass du Sisu von einer ganzheitlichen, körperlich-sinnlichen Seite her denkst. Sisu ist für mich keine Eigenschaft, die man einfach logisch erklären oder in Worte fassen kann. Es ist ein inneres Erleben – etwas, das sich mehr im Körper als im Kopf abspielt.
Manchmal ist es Musik, die in mir etwas auslöst. Ich habe eine Playlist mit Liedern, die mich daran erinnern, was in mir steckt – je nachdem, was ich gerade brauche. Manchmal ist es auch ein vertrauter Duft – zum Beispiel der Geruch eines geliebten Menschen. So etwas Einfaches kann mein Nervensystem beruhigen und in mir das Gefühl wecken: Ich bin sicher, ich bin verbunden. Und genau aus dieser Verbindung entsteht Kraft.
Sisu ist für mich also nicht der einsame Kampf mit zusammengebissenen Zähnen, wie man es oft kulturell vermittelt bekommt. Es ist ein Zustand von Präsenz, von Tiefe, von gelebter Verbundenheit. Und mit all unseren Sinnen können wir durch Licht, Klang, Berührung, Duft oder ein Gefühl Sisu erleben.
Was ist dein persönlicher Tipp, um Sisu im Alltag zu integrieren?
Der wichtigste Schritt, um Sisu in den Alltag zu bringen, ist ganz simpel: Man muss es wirklich wollen. Ohne diese innere Bereitschaft bleibt Sisu ein schöner Gedanke – erst durch Handeln wird es lebendig. Und dafür braucht es nicht Härte, sondern Sanftheit und Selbstmitgefühl.
Sisu bedeutet nicht, sich durchzubeissen, sondern den Mut zu haben, auch dorthin zu schauen, wo es unangenehm ist. Vielleicht ein schwieriges Gespräch führen. Vielleicht dem Körper mehr Aufmerksamkeit schenken. Vielleicht endlich die eigenen Bedürfnisse ernst nehmen.
Schon eine kleine bewusste Veränderung wie eine optimierte Schlafroutine kann viel bewirken. Natürlich können auch grössere Herausforderungen – wie ein Marathon oder ein Eisbaden – ein Portal sein, um sich selbst zu begegnen. Aber es ist nicht das Ziel selbst, das zählt. Es ist der Prozess, der uns mit unserem inneren Sisu in Kontakt bringt.
Wenn du meinen Leserinnen und Lesern etwas zum Thema Sisu mitgeben könntest, was wäre es?
Dass gerade dann, wenn alles unsicher scheint – wenn es sich anfühlt, als sei nichts mehr da und die Kraft verschwunden – Sisu uns oft näher ist, als wir glauben. In solchen Momenten wird es still in uns, und genau in dieser Stille können wir wieder in Kontakt mit unserer inneren Kraft kommen.
Kurz gesagt: In jedem von uns steckt viel mehr Stärke, als wir selbst oft wahrnehmen oder glauben wollen. Und Sisu ist nichts Mystisches oder Kompliziertes. Es ist letztlich Lebensenergie – vor allem dann, wenn das Leben uns herausfordert.
Diese Lebensenergie nährt sich von ganz einfachen Dingen: Bewegung, Ruhe, Nähe, gutes Essen, Natur, Licht, Stille. Alles, was uns ein Gefühl von Verbundenheit und innerem Gleichgewicht schenkt, stärkt auch unser Sisu – und bereitet uns darauf vor, mit schwierigen Zeiten umzugehen.
Ich wünsche mir, dass dieses Gespräch Sisu für einige vielleicht weniger mystisch und greifbarer macht. Denn letztlich ist es etwas sehr Einfaches – auch wenn der Weg dorthin manchmal herausfordernd ist.
Lämpimät kiitokset, Elisabet – für deine Zeit, dein Vertrauen und dafür, dass du deine Erfahrungen mit Sisu so offen mit mir geteilt hast. Dieses Gespräch hat mich tief berührt und wird mich auf meinem eigenen Weg ganz sicher begleiten!
Hinweis: Das Interview wurde auf Finnisch geführt und von mir ins Deutsche übersetzt. Die im Beitrag verwendeten Bilder wurden mir freundlicherweise von Elisabet Lahti zur Verfügung gestellt.
Zur Person
Dr. E. Elisabet Lahti ist eine finnische Verhaltensforscherin, internationale Rednerin, Autorin und Gründerin des Sisu Lab. Sie hat sich auf die Erforschung von Sisu spezialisiert, einem Konzept, das innere Stärke, Entschlossenheit und Ausdauer in herausfordernden Situationen beschreibt. In ihrer Arbeit verbindet sie wissenschaftliche Erkenntnisse mit persönlichen Erfahrungen, um Menschen dabei zu unterstützen, ihre eigene Resilienz und innere Kraft zu entdecken und zu stärken.
Willst du mehr zum Thema Sisu erfahren?
- Studie: Embodied fortitude: An introduction tot he Finnish construct of Sisu
- Buch: Gentle Power: A Revolution in How We Think, Lead, and Succeed Using the Finnish Art of Sisu!
- Buch: Sisun Alkemia: Tarinoita Elämästä, Voimasta ja Elämänvoimasta
Dein Sisu-Moment ✨
💬 Erzähl mir in den Kommentaren weiter unten gerne, wann du zuletzt gespürt hast, dass du mehr Kraft in dir trägst, als du dachtest. Und welche Dinge geben dir ganz allgemein Energie im Alltag? 🍦🌳👟📖🎶
Meine bisherige Suche 🔎
Vielleicht bist du neu hier. Vielleicht hast du einfach einen der bisherigen Beiträge verpasst. Hier kannst du alles über meine bisherige Suche nach Sisu nachlesen:
- Auf der Suche nach Sisu #1: Die finnische Antwort auf alles? 🫐
- Auf der Suche nach Sisu #2: Zwei Heimaten – und ich bin irgendwo dazwischen ❤️🩹
- Auf der Suche nach Sisu #3: Zwischen Forschung und Feuer – das Interview mit Sisu-Expertin Elisabet Lahti 🎤
Erzähl mir gerne:
✨ Wann hast du zuletzt gespürt, dass du mehr Kraft in dir trägst, als du dachtest?
🌼 Und welche Dinge geben dir ganz allgemein Energie im Alltag?