Coronawoche 10

Erwartung

Aus dem meergrünen Teiche
Neben der roten Villa
Unter der toten Eiche
Scheint der Mond.

Wo ihr dunkles Abbild
Durch das Wasser greift,
Steht ein Mann und streift
Einen Ring von seiner Hand.

Drei Opale blinken;
Durch die bleichen Steine
Schwimmen rot und grüne
Funken und versinken.

Und er küßt sie, und
Seine Augen leuchten
Wie der meergrüne Grund:
Ein Fenster tut sich auf.

Aus der roten Villa
Neben der toten Eiche
Winkt ihm eine bleiche
Frauenhand.

Text: Richard  Dehmel (1863 – 1920)

Musik: Arnold  Schoenberg (1874 – 1951) Erwartung, op. 2 (1899)

 

Dehmels düsteres Gedicht «Erwartung» ist doch gespickt mit Farben, welche Arnold Schönberg in seiner Vertonung musikalisch inspiriert haben müssen. Auch wenn unsere Bildschirme heute Millionen von Farben darstellen und in gestochen scharfer Auflösung präsentieren können, sind doch die Originale in Kunst und Natur den digitalen Abbildern noch weit überlegen. Zum Glück konnten wir uns in den vergangenen zehn Wochen immer auch draussen bewegen und verschiedenste Naturstimmungen wahrnehmen. Originalbilder kann man jetzt auch wieder in den Museen auf sich wirken lassen. Genauso wird es mit den Klängen sein: Eine Stimme im Raum zu erleben, ist einzigartig und ein analoges Konzert kann durch keinen Livestream ersetzt werden.
Dies ist wohl die wichtigste Erkenntnis aus der ganzen Coronazeit: es geht mit weniger, sogar mit viel weniger von allem, aber die Originale sind nicht ersetzbar, weil sie einzigartig sind: Menschen, Klänge, Atmosphären, Stimmungen – alles, was an Zeit und Raum gebunden ist, muss auch in Zeit und Raum stattfinden können. Die Musik ist diesbezüglich wohl die radikalste von allen Künsten.
Es wird überwältigend sein, wieder zeitgleich im selben Raum wirken zu können. Es sind noch sieben Tage im digitalen Tunnel, die analoge Hand winkt bereits! Stellen wir unsere Köpfe, Hände und Herzen wieder auf «hier und jetzt» – ich freue mich auf euch und eure Stimmen!

Zum letzten Mal: keep singing and resisting!

Herzlich

Hans-Jürg