Gender-Inclusive Requirements Engineering: Geschlechter-neutrale Softwareentwicklung – Sinn oder Unsinn?

Software ist nicht neutral und auf alle Benutzerbedürfnisse ausgerichtet. Software schafft durch nicht-inklusive Ansätze in deren Entstehung neue Hürden, anstatt solche abzubauen. Ein Modell soll Abhilfe schaffen. 

Aus Jux und Tollerei habe ich eine Suche gestartet: „Gendern im Requirements Engineering“. Und tatsächlich: Das Thema „Geschlecht“ (oder eben Gender) ist auch im Kontext von Requirements Engineering zu finden. Und zwar in einem interessanten Zusammenhang.

Um es vorwegzunehmen: Ich bin eine Frau, mache mir jedoch eher selten Gedanken zu meiner weiblichen Identität und deren Vor-oder Nachteile in der digitalen Welt. Diese Studie aus Portugal (GIRE: Gender-Inclusive Requirements Engineering, veröffentlicht in „Data & Knowledge Engineering“, Volume 143, January 2023, 102108.) belegt allerdings, dass sich eine einseitige Sicht in der Anforderungsanalyse direkt auf die daraus resultierende Software auswirkt. Und dies birgt das Risiko, digitale Hürden zu schaffen.

Frauen ticken anders – Benutzerfreundlichkeit versus Nützlichkeit

Das Geschlecht spielt eine Rolle: Frauen haben offenbar andere Bedürfnisse und Anforderungen an Software als Männer. Software richtet sich aber häufiger an den Präferenzen der Männer aus. Beispielsweise wird davon ausgegangen, dass der Benutzer durch Explorieren der Software neue Funktionen entdeckt. Offenbar machen dies vor allem Männer – Frauen ticken anders.

Frauen fühlen sich in digitalen Open-Source-Communities weniger wohl, wenn das Geschlecht offengelegt ist. Frauen bevorzugen Benutzerfreundlichkeit, Männer interessiert die Nützlichkeit. Und Frauen finden Design wichtiger als Männer.

Warum nun diese einseitige Ausrichtung? Männer dominieren die Teams!
Ölbild, Privatsammlung

Eine Begründung, warum sich die Software an den Bedürfnissen der Männer orientiert, liegt offenbar darin, dass die Frauen in der ICT-Branche untervertreten sind – auch bei den Requirement Engineers (siehe Artikel: What do we learn from Gender Studies for Requirements Engineering.)

Die Anforderungen werden also nicht wie angenommen „neutral“ erhoben, sondern durch die „Geschlechter-Brille“. Somit ist auch das Resultat daraus, also die Software, nicht neutral.

Alles eine Frage des Blickwinkels

Die Entwicklungs-Teams gehen davon aus, dass die eigenen Bedürfnisse und Werte universell gültig sind und das Konzept des Geschlechts wird fälschlicherweise vernachlässigt.

Wo also Software-Anforderungen mehrheitlich von Männern erhoben werden, entsteht eine einseitige Software. Und: es gibt offenbar keine brauchbaren Werkzeuge, um dies zu verhindern. Um die Anforderungsanalyse um diesen  „Gender-bias“ zu korrigieren, wurde das «Gender Inclusive Modell» entworfen.

Gender-Inclusive-Modell aus der Studie von I. Nunes, A. Moreira und J. Araujo (Data & Knowledge Engineering 143 (2023) 102108)

Das Modell soll die Anforderungserhebung unterstützen und die Gender-Optik einbringen.

Methodik zur «Gender-Inclusive-gerechten» Anforderungserhebung. Ist das wirklich zielführend?

Aber liegt es nicht auf der Hand, dass die Erfassung unserer Welt immer subjektiv gefärbt und gefiltert ist? Und damit eben auch vor der Anforderungsanalyse nicht halt macht? Und dies gilt ja nicht nur für das Geschlecht.

Wäre es nicht interessant, dieser Subjektivität mit gemischten Anforderungs-Teams zu begegnen, anstatt mit theoretischen Modellen?  Und wäre es in der Konsequenz nicht auch sinnvoll, diese Balance bei den künftigen Benutzern zu berücksichtigen?

«Das All-Inclusive-Modell»

Wenn man den Gedanken zu Ende denkt, dann müssten sowohl im Erhebungs-Team wie auch im Kreis der Befragten alle künftigen Nutzer ausbalanciert repräsentiert sein.

An dieser Stelle frage ich mich gerade, wo die SBB die Kinder und die Senioren bei der Entwicklung der SBB-Ticket-App gelassen hat: wurde berücksichtigt, dass Kinder wohl ein Ticket brauchen, aber vielleicht kein Smart-Phone haben? Oder dass Senioren mit der App überfordert sein könnten und es doch noch eine Alternative braucht? Wurde die App zusammen mit Kindern oder Senioren gebaut oder durch diese getestet?

Schliesslich geht es doch um die Inklusion von Jung und Alt, von Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen, den Einschluss von Menschen mit unterschiedlichem Bildungshintergrund, verschiedener Religionen und unterschiedlicher geografischer Herkunft. Es geht letztlich um eine möglichst umfassende Inklusion, welche die jeweiligen Eigenarten der Personen im Umgang mit der Software berücksichtigt.

Die jedoch möglicherweise viel entscheidendere Frage ist, ob die Inklusion tatsächlich auch immer angestrebt wird. Vielleicht wird in der Software-Industrie bewusst mehr Exklusion verfolgt  – ohne dies offenzulegen.

Links und weiterführende Informationen zum Thema:

Inklusion im Design:

Beitrag teilen

Sonja Zimmermann

Die Autorin arbeitet seit 2004 in verschiedenen Rollen in der IT und setzt sich gern mit ungewöhnlichen Fragestellungen auseinander.

Alle Beiträge ansehen von Sonja Zimmermann →

Schreibe einen Kommentar