Wer an Requirements Engineering denkt, hat oft grosse IT-Projekte im Kopf: neue ERP-Systeme, komplexe Plattformen oder agile Produktentwicklungen. Aber Requirements Engineering ist nicht Grossprojekten vorbehalten. Im Gegenteil, gerade bei kleinen Vorhaben kann gutes Requirements Engineering darüber entscheiden, ob das Vorhaben ein „Quick Win“ wird oder ob sich das „kleine“ Vorhaben zu einem kompliziertes Desaster entwickelt.
Grundbuchanmeldung einfach gemacht?!
Ich arbeite in der öffentlichen Verwaltung und beschäftige mich unter anderem mit digitalen Services für Bürgerinnen und Bürger. Ein aktuelles Beispiel: geführte Online-Formulare für die Anmeldung von Grundbuchgeschäften – etwa beim Kauf einer Immobilie oder bei einer Erbschaft. Klingt überschaubar, oder?
Was nach wenig klingt, ist in Wahrheit ein komplexes Mini-Projekt mit vielen Beteiligten: Juristische Mitarbeitende, Sachbearbeitende, eine IT-Fachperson (für die Programmierung der geführten Formulare) und natürlich die Nutzenden. Alle haben andere Vorstellungen davon, was dieses Formular können soll. Was muss verpflichtend abgefragt werden? Wie lassen sich Eingaben logisch führen? Wer darf was einreichen – Privatpersonen, Notariate oder beide? Wie prüfen wir Plausibilität ohne rechtliche Hürden zu schaffen?
IT bzw. Requirements Engineering trifft auf Juristerei
Ohne sauberes Requirements Engineering droht genau hier die Sackgasse. Wenn das Formular zu kompliziert aufgebaut ist, wird es niemand nutzen. Wenn jedoch wichtige Felder fehlen, werden die Eingaben für die Weiterverarbeitung bzw. die Eintragung des Geschäfts unbrauchbar oder unvollständig. Technisch ist zwar sehr viel möglich, fachlich kommen sich die Mitarbeitenden jedoch mit unterschiedlichen Ansichten in die Quere.
Besonders bei den Jurist/innen war die Skepsis anfangs gross. Zu starr, zu technisch, zu viele Varianten – so die Befürchtung. Sie waren überzeugt, dass ein interaktives Formular niemals die Vielfalt und Komplexität aller Grundbuchanmeldungen abdecken kann. Diese Vorurteile waren auch überhaupt nicht unberechtigt: Mein Kollege und ich von der „IT-Seite“ kamen sehr ins schwitzen, als wir mit unzähligen wenn > dann Logiken alle möglichen Grundbuchfälle abbilden mussten und immer wieder bei den Jurist/innen nachfragen mussten, ob dies jetzt so stimmt.
Requirements Engineering als Brücke zwischen Welten
Gerade hier zeigte sich, wie wertvoll gutes Requirements Engineering ist: Wir mussten vermitteln, zuhören, Komplexität runterbrechen – und gemeinsam tragfähige Anforderungen definieren. Wir konnten nicht einfach einen bereits vorhanden Prozess digitalisieren, weil der Prozess einer Grundbuchanmeldung in der Realität jedes mal eine andere Wendung nimmt, sobald ein Faktor im ganzen Gerüst verändert wird.
Ohne gutes Anforderungsmanagement hätte es leicht heissen können: „Geht nicht.“ Glücklicherweise und nach ein paar doch sehr verunsicherten Brainstormings zwischen meinem Kollegen und mir konnten wir die Jurist/innen davon überzeugen, dass es sehr wohl geht – wenn man sich auf einen klaren Scope einigt und gezielt die häufigsten Anwendungsfälle abbildet.
Unser Vorgehen
Damit wir Grundsatzfragen möglichst rasch beantworten können, sind wir im Team wie folgt vorgegangen:
- Interviews mit den Sachbearbeitenden und Jurist/innen, welche die Anmeldungen täglich weiterverarbeiten.
- Kurze Nutzer/innenbefragung bei Privatpersonen, um deren Erwartungen zu verstehen.
- Erstellung einfacher User Stories wie: „Als Privatperson möchte ich das Formular online ausfüllen können, ohne juristische Fachbegriffe nachschlagen zu müssen.“
Aus diesen kleinen Schritten entstand eine klare Rahmenbedingung. Wir konnten das Formular so gestalten, dass es verständlich, rechtssicher und technisch umsetzbar ist. Leider ist es noch nicht publiziert, weshalb ich das Formular hier nicht verlinken kann. Du, liebe/r Leser/in kannst aber gerne in ein paar Monaten unter dieser URL nachschauen, ob das Formular nun publiziert ist.
Meine Schlussfolgerung
Ein schlankes, gezieltes Requirements Engineering hilft, Klarheit zu schaffen. Welche Nutzer/innen sollen angesprochen werden? Welche Use Cases sind zentral? Bei welchen Anfroderungen handelt es sich um Muss-Anforderungen und welche sind eher Spezialwünsche?
Gutes Requirements Engineering ist keine Frage der Projektgrösse, sondern der Haltung und Effizienz. Wer sich Zeit nimmt, auch bei kleinen Vorhaben während der Konzeptphase die Anforderungen sauber zu klären, spart später viel Aufwand.