Lass stecken! Oder warum man nicht immer alles gleich googeln muss…

Müssen wir zu jeder Zeit alles wissen? Wann braucht es harte Fakten und wann ist es auch OK, etwas nicht zu wissen? Eine Situation bei der Arbeit hat mich darüber nachdenken lassen.

Wenige Wochen ist es her. Wir sassen im Büro, in der Pause beieinander und plauderten. Wie es so weit kam, ist mir entfallen, doch irgendwie kam das Gespräch auf Trudi Gerster. (Die Älteren unter uns werden sich erinnern. Für die Jüngeren: Trudi Gerster war so etwas wie die Taylor Swift des Märchenerzählens.) Jedenfalls kam, nach einigen Stimmimitationen und einem Exkurs zu den Parodien von Marco Rima (aus der Zeit, bevor er sich «politisch» engagierte), sehr bald die Frage auf: Lebt die eigentlich noch? Als Kind der Achtziger erinnere mich dunkel an eine schon etwas ältere Frau. Sie muss ja inzwischen uralt sein, und gehört hat man schon lange nichts mehr. Und so kam es, wie es in solchen Situationen im Zeitalter von Smartphone, Google und ChatGPT immer kommt: Ein Kollege zückt sein iPhone und weiss wenige Sekunden später: Trudi Gerster starb vor mehr als 10 Jahren. Ziel erreicht, Diskussion beendet, zurück an die Arbeit.

So weit, so gut. Doch irgendwie wollte mir das keine Ruhe lassen. So spannend und heiter die Pausenplauderei war, so abrupt war sie beendet. Eine einfache Suchmaschinenabfrage hat dafür gesorgt, dass es nichts mehr zu sagen gab. Also zurück an die Arbeit.

Auf der Fahrt nach Hause hat mich das Thema aber wieder eingeholt. Mag unsere Unterhaltung noch so belanglos gewesen sein – ich war frustriert, über die Art und Weise, wie sie endete. Noch vor der Zeit, als das Wissen der Welt in Form eines Screens in meiner Handfläche Platz hatte, musste man sich zu helfen wissen. Der neunmalkluge Freund, die Lehrerin, vielleicht der Brockhaus in der Schulbibliothek, die Eltern. Alles potenzielle Wissensquellen, die damals vielleicht die Antwort auf unsere drängenden Fragen gehabt hätten. War keine davon in Reichweite, hatte entweder derjenige Recht, der am nachdrücklichsten seinen Standpunkt vertreten konnte oder man musste sich sonst wie der Antwort annähern. Oder noch schlimmer: Akzeptieren, dass man etwas nicht weiss.

Bevor ich nun endgültig das Bild des Ewiggestrigen zementiere, ein kleiner Disclaimer. Ich bin digital. Sehr sogar. Meine letzte Papieragenda habe ich entsorgt, als ich 2003 einen ausgedienten Palm PDA geschenkt erhielt. Zeitungen oder Bücher lese ich auf meinem iPad und wenn Apple mir montags den Bericht über meine Screen Time schickt, möchte ich regelmässig im Erdboden versinken. Daten spielen in meinem Job eine wichtige Rolle. Ich tracke Öffnungs- und Klickraten, will die Scrolltiefe von Website-Besuchern wissen und versuche herauszufinden, warum die Absprungrate auf einigen unserer Seiten höher ist als auf anderen. Wenn ich etwas mit Daten belegen kann, ist mir immer wohler, als mich auf ein unspezifisches Gefühl zu verlassen.

Vieles ist digital besser. Es spart Zeit, ist bequemer und zuverlässiger. Wer das nicht glaubt, möge die in wenigen Wochen ins Haus flatternde Steuererklärung doch wieder einmal auf Papier ausfüllen. In den vergangenen 20 Jahren haben einige Disruptoren Unglaubliches geschafft. Mit ihren, teils radikalen, Ideen haben Amazon, Google & Co die Welt verändert und ganze Industrien beerdigt. Auch jetzt ist ein gewaltiger Wandel quasi «in the making». Dank KI werden wir in einem Jahr Möglichkeiten haben, die man noch vor fünf Jahren als geradezu lächerlich verspottet hätte.

Die digitale Transformation ist gekommen, um zu bleiben. Ich freue mich darauf, in meinem beruflichen Alltag Teil davon zu sein. Mitgestalten. Mitwachsen. Doch möchte ich unbedingt vermeiden, die menschliche Komponente zu vernachlässigen. Zu viele brillante Änderungen, Anpassungen und Neuerungen (auch, aber nicht nur in Technik und Organisation) landeten auf dem Aschehaufen der Geschichte, weil vergessen wurde, dass dies alles im Endeffekt von Menschen getragen und gelebt werden muss. Ich will meinen googelnden Kollegen nicht verteufeln. Aber vielleicht versuchen wir das nächste Mal, einfach mal Nicht-Wissen zu akzeptieren und stattdessen miteinander zu reden.

Weiterführende Links
Damit man nicht selber danach suchen muss, findet sich hier den Wikipedia-Eintrag zu Trudi Gerster, gleichzeitig einen Referenzclip zu ihrer Arbeit sowie eine der legendären Parodien von Marco Rima.

Beitrag teilen

Samuel Bucher

Samuel Bucher, geboren 1982, absolviert derzeit das CAS Digital Transformation. Nach seinem Abschluss in Betriebswirtschaft hat er sich in Online Marketing, aber auch Web und Desktop Publishing weitergebildet. Mit viel Bewegung an der frischen Luft findet er einen Ausgleich zur permanenten Bildschirmarbeit.

Alle Beiträge ansehen von Samuel Bucher →

Schreibe einen Kommentar