In den Wirtschaftsmedien liest man immer wieder, dass Unternehmen in die Digitalisierung und Automatisierung investieren müssen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Am «teuren» Standort Schweiz, führt da kein Weg daran vorbei…
Ist die Digitalisierung die wahre Lösung oder verbergen sich dahinter auch noch ungeahnte Risiken, die die Kosten stattdessen noch mehr in die Höhe treiben? Gewinnen wir an Flexibilität oder machen wir uns abhängig und behindern uns dadurch selbst?
Meine Erfahrungen
Ich arbeite seit 20 Jahren in der produzierenden Industrie. Ich konnte hautnah miterleben, wie Prozesse digitalisiert und automatisiert wurden. Administrative Aufgaben in Papierform, welche in aufwendigen Arbeitsschritten von Mitarbeiter*innen erledigt wurden, werden nun papierlos durch automatisierte Jobs im ERP (Enterprise Resource Planning) oder MES (Manufacturing Execution System) mehrmals täglich erledigt. Einsparungen bei den Personalressourcen, sehr hohe Prozesssicherheit und Skalierbarkeit sind das Ergebnis. Was hat dies aber sonst noch für Folgen, bleibt es bei diesen Einsparungen und Optimierungen?
Meine Erfahrung ist, dass wir zwar fähig sind zu digitalisieren, aber die Vielfalt der Prozesse in unserem Tagesgeschäft uns einen Strich durch die Rechnung macht. Ich bin oft in der Situation, dass 80% vom Soll-Zustand schnell erreicht werden, aber für die restlichen 20% braucht es dann aber einen langen Atem. Dies hat zur Folge, dass der Effekt der Einsparung nicht zum geplanten Zeitpunkt umgesetzt werden kann, trotz der angefallenen „teuren” IT-Kosten. Aufgrund des erzielten Fortschrittes lässt der Druck nach, das Projekt ganz fertigzustellen. Es heisst dann, wir sind ja heute deutlich besser als vorher, sei doch zufrieden damit. Der Aufwand für die vollumfängliche Fertigstellung sei bei näherer Betrachtung zu gross und rechtfertige das Ergebnis nicht mehr.
Voraussetzungen
Um Prozesse erfolgreich digitalisieren zu können, braucht es eine enge Zusammenarbeit zwischen IT und der Antragssteller. Man muss die Aufgaben der bestehenden Prozesse verstehen und die detaillierten Abläufe, mit all den verschiedenen Varianten kennen. Des Weiteren muss man sich mit den vorhandenen Stammdaten auseinandersetzen. Reichen diese für die Optimierung aus oder braucht es noch weitere Merkmale, um eindeutige Zuordnungen machen zu können? Basierend auf dieser Ausgangslage sollte die Machbarkeit geprüft und eine realistische Aufwandsschätzung erstellt werden.
Ich höre oft die Aussage: „das geht nicht“ von der IT. Hier muss man gemeinsam in die Tiefe der Prozesse gehen und nach möglichen Wegen suchen, nur so findet man eine praktikable Lösung für das Tagesgeschäft.
Folgen
Neue Systeme bringen auch neue Aufgaben mit sich, z.B. Prozess-Controlling, pflegen von Stammdaten, rückmelden neuer Buchungen, bereinigen von Fehlern, usw. Dies erfolgt über die Mitarbeiter*innen von der Fachabteilung. Diese zusätzlichen Aufgaben gehen erfahrungsgemäss oft vergessen oder werden zu wenig berücksichtigt bei der Kalkulation des Projektes. Die Einsparungen an den Personalressourcen fallen dann geringer aus als erwartet.
Die Prozesskenntnisse in der Fachabteilung gehen durch die Automatisierungen und der damit verbundenen Reduktion des Personals leider auch verloren. Wenn es später einmal zu Abweichungen kommt, fehlt es oft am Verständnis zwischen dem physischen und des digitalen Prozesses. Hier braucht es dann vermehrte Unterstützung durch die IT.
Fazit
Mit der Digitalisierung und Automatisierung kann der Output eines Produktionsbetriebs deutlich erhöht und stabilisiert werden, der „ausführende“ Mensch ist dann nicht mehr die limitierende Ressource im Prozess. Es heisst aber nicht, dass die Kosten dadurch immer gesenkt werden und alles besser wird. Man darf nicht nur die Einsparungen der Sachbearbeiter*innen in der Fachabteilung und der Mitarbeiter*innen in der Produktion berücksichtigen. Es entstehen zusätzliche Kosten durch neue Produktionsanlagen und deren Unterhalt, neue Software mit regelmässig anfallenden Lizenzgebühren und des zusätzlichen Aufwandes der IT, für den Unterhalt der neu digitalisierten Prozesse.
Die grössten Herausforderungen sehe ich bei Unternehmen, die bereits einen hohen Reifegrad in der Digitalisierung aufweisen, wenn Änderungen an bereits digitalisierten Prozessen vorgenommen oder neue Prozesse in eine digitale Landschaft integriert werden sollen. Der Aufwand hierbei fällt deutlich höher aus, was dazu führt, dass die Hürden zur Freigabe dieser Verbesserungsmassnahmen weiter erhöht werden. Dies beeinträchtigt die Weiterentwicklung des Unternehmens. Der Fachkräftemangel führt leider ebenfalls dazu, dass nun die IT selbst zur limitierenden Ressource wird und dadurch die Digitalisierung im Produktionsbetrieb ausbremst.