Agiles Projektmanagement: Trügerische Illusion einer Veränderung?

Moderne Unternehmen arbeiten agil – Unternehmenswebseiten, Geschäftsberichte oder Jobausschreibungen untermauern dieses Bild. Agil sein ist trendy. Spricht man mit Spezialisten für agiles Projektmanagement, zeigt sich aber schnell: Nicht überall wo Agilität draufsteht, ist auch Agilität drin. Weshalb beanspruchen Unternehmen Agilität für sich, wenn dies auf der operativen Ebene gar nicht gelebt wird? Der soziologische Neoinstitutionalismus bietet eine mögliche Erklärung.

Die Welt wird immer digitaler und Geschäftsmodelle sowie Arbeitsprozesse befinden sich in stetigem Wandel. Agile Methoden ermöglichen es Unternehmen, in einem dynamischen Umfeld wettbewerbsfähig zu bleiben. Sie begreifen Veränderungen und Unsicherheit als Chance, um schneller auf Kundenbedürfnisse reagieren und Innovationen vorantreiben zu können. Gelebte Agilität erfordert jedoch auch einen Bruch mit herkömmlichem Denken sowie die Bereitschaft, die Unternehmenskultur und –prozesse konsequent darauf auszurichten. Nicht umsonst wurden die Grundsätze in einem Manifest für Agile Softwareentwicklung festgehalten.

 

Patchwork Agilität

Die Bereitschaft zu fundamentalen Veränderungen in Richtung Agilität scheint im realen Alltag von Unternehmen nur in seltenen Fällen vorhanden zu sein. Oftmals findet Agilität ihren Weg in Unternehmen nur partiell. Man arbeitet zwar mit Tools wie Jira oder Asana, spricht von Scrum, Kanban und Sprints, aber das bleiben Begriffe, die man wie Flicke auf die gewohnten Prozesse und Strukturen knallt und die Agilität nur symbolisch zur Schau tragen. Die Änderung der institutionalisierten Normen und Werte des Unternehmens ist oft nicht beabsichtigt oder zerschellt an verhärteten hierarchischen Strukturen oder mangelnder Veränderungsbereitschaft von Management und Mitarbeitern.

 

Nichts Neues für den Neoinstitutionalismus

Aus Sicht des soziologischen Neoinstitutionalismus müssen sich Unternehmen an bestimmte Normen und Werte ihrer institutionellen Umwelt anpassen, um überleben zu können. Durch den Prozess der (mimetischen) Isomorphie gleichen Sie sich an Organisationen an, die als besonders vorbildlich, rational und effektiv gelten. Das primäre Gestaltungsziel ist dabei nicht die Effizienz, sondern die Legitimation gegenüber der Umwelt. Deshalb tendieren Unternehmen dazu, Rationalitätsmythen zu erzeugen und Legitimitätsfassaden zu errichten. Die Unternehmen halten die von der Umwelt geforderten Fassaden in den formalen Strukturen (z.B. Organigramm, Vision, Leitfäden etc.) zwar aufrecht, kommen aber mit den davon entkoppelten Aktivitäten im technischen Kernbereich nicht nach.

 

Agilität als pures Marketinggesülze?

Vor dem konstruierten Hintergrund erscheinen die Bekenntnisse zu Agilität von gewissen Unternehmen mehr und mehr als flaches Marketinggesülze, als Beschönigung der Realität. Die Möglichkeit zur Entkopplung der formalen Struktur von den Aktivitäten hat aber durchaus ihre Berechtigung. Durch die Integration von Agilität in der Formalstruktur sichert sich ein Unternehmen seine Legitimität in der Umwelt und schafft sich so den Zugang zu nötigen Ressourcen (Arbeitskräfte, Kunden etc.) und gleichzeitig bleibt es auf der Aktivitätsstruktur handlungsfähig, da nicht der komplette Apparat auf einen Schlag umgekrempelt werden muss. Auch wenn so Rationalität mit dem Bekenntnis zu Agilität lediglich symbolisiert wird, ist es durchaus rational, dies so zu tun.

 

Rationalitätsmythos «Agilität»

Man kann Agilität durchaus als einen Rationalitätsmythos im Sinne der Neoinstitutionalisten begreifen, als einen Trendbegriff dessen blosse Verwendung Erfolg in Aussicht stellt. Es gibt aber auch Unternehmen, die Agilität erfolgreich leben und welchen es gelungen ist, eine institutionelle Logik zu etablieren, die auf den Werten des agilen Projektmanagements (Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Innovation) basiert. Schliesslich braucht es ja auch die erfolgreichen Vorbilder, welchen sich Mitbewerber im Sinne der Isomorphie angleichen können.

 

Mehr als eine Illusion

Den Trend des agilen Projektmanagements als trügerische Illusion einer Veränderung zu bezeichnen würde zu kurz greifen und ist so auch nicht wahr. Agilität hat bereits in viele komplexen Projekten zum Erfolg geführt und hat die Methodendiskussion im (digitalen) Projektmanagement mitbestimmt. Wichtig ist, dass man den Status Quo stets hinterfragt und die Werkzeuge bzw. Methoden so auswählt, dass sie den Anforderungen der jeweiligen Projekte entsprechen. So wird Agilität auch in mässig agilen Betrieben bereits wichtige Denkanstösse geliefert haben. Agilität kann aber auch kein Allheilmittel sein und ist in seinem Ergebnis auch immer von Menschen abhängig, die sie anwenden.

 

 

Weiterführende Links bzw. Literatur zum Thema:

John W. Meyer, Brian Rowan: Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony. In: American Journal of Sociology. Vol. 83, 1977, S. 340–363.

Paul J. DiMaggio, Walter W. Powell: The Iron Cage Revisited: Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields. In: American Sociological Review. Vol 48, 1983, S. 147–160.

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Moritz Imfeld

Moritz Imfeld bloggt aus dem Unterricht des CAS Requirements Engineering. Er arbeitet im Marketing vom Verkehrshaus der Schweiz. Im Masterstudium der Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften (Major Organization and Management) beschäftigte er sich mit der Organisationswissenschaften.

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