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Heterogenität als geteilte Aufgabe

Immer mehr Wege führen in die Hochschule, und die meist jungen Menschen, die diese Wege beschreiten, bringen – zum Glück – ganz unterschiedliche Erfahrungen mit. Die Heterogenität unter den Studierenden stellt die Lehrenden vor Herausforderungen. Für den Umgang mit heterogenen Lerngruppen haben wir deshalb einige Vorschläge zusammengestellt.  

Diversität im Verwaltungsrat, im Theaterensemble oder im Projektteam – überall setzt sich die Erkenntnis durch, dass Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts, mit divergenten sozialen Erfahrungen und unterschiedlichem Bildungshintergrund gemeinsam komplexe Aufgaben besser lösen als homogene Gruppen. Überall? Nicht ganz: In der Bildung gilt zumindest Leistungsheterogenität immer noch als Herausforderung, die es im idealen Bildungssystem eigentlich gar nicht geben sollte. Dieser Perspektive liegt die Annahme zugrunde, dass der Aufbau von fachlichen und sozialen Kompetenzen gradlinig, planbar und deshalb bei allen Lernenden identisch sei. In einem solchen Prozess stehen Lernende zu einem bestimmten Prozess alle am gleichen Ort.  

Was vermutlich schon immer ein Mythos und auch innerhalb eines normierten Bildungsgangs nicht der Fall war, trifft in der heutigen Hochschullehre weniger denn je zu: Der Zugang zu Schweizer Hochschulen ist vielfältig, was als grosse Stärke des Schweizer Bildungssystems gilt. Im ersten Semester des Studiengangs Energie- und Umwelttechnik der HSLU können beispielsweise Studierende mit technischer oder kaufmännischer Berufsmatur, einer gymnasialen Maturität, dem Abschluss einer Höheren Fachschule und einem deutschen Abitur sitzen. Je nach Modul bringen hier die einen oder anderen Studierenden besondere Vorkenntnisse mit oder haben im Vergleich zu ihren Mitstudierenden ein geringeres Vorwissen. Die Aufgabe der Hochschule und ihrer Lehrenden besteht nun darin, die Studierenden zum gleichen Abschluss zu führen, der den Studierenden einschlägige (Mindest-)Kompetenzen attestiert.  

Die deutsche Hochschuldidaktikerin und Pädagogin Regine Richter hat schon vor Jahren in einem viel beachteten Beitrag Möglichkeiten zum konstruktiven Umgang mit Heterogenität in Lehrveranstaltungen zusammengestellt. Die vielleicht wichtigste und erstaunlichste Überlegung: Die Heterogenität ist nicht alleine das Problem der Lehrenden – Studierende und Lehrende sind gemeinsam dafür verantwortlich, dass die Studierenden trotz unterschiedlicher Voraussetzungen die Lernziele erreichen.  

Unterschiedliche Lernpfade aufzuzeigen und vorzubereiten, ist ein möglicher Umgang mit Heterogenität – er ist naheliegend und wird oft als Forderung an die Lehrenden formuliert. Zugleich schiebt er Verantwortung und Aufwand den Lehrenden zu. Daneben plädiert Richter für weitere Möglichkeiten, bei denen die Lehrenden lediglich die Voraussetzungen dafür schaffen müssen, dass die Studierenden eigenverantwortlich einen konstruktiven Umgang mit Heterogenität pflegen können. Richter nennt unter anderem folgende Eckwerte:  

  • Geteilte Verantwortung: Lehrende und Studierende sind gleichermassen dafür verantwortlich, dass die Heterogenität einer Lerngruppe nicht zum Stolperstein für einzelne Studierende wird oder den Lernfortschritt der gesamten Gruppe bremst. 
  • Professionalität: Lehrende müssen professionell agieren und ihren Unterricht nach anerkannten didaktischen Prinzipien gestalten – keine Frage. Zugleich müssen aber auch Studierende professionell agieren, d.h. selbst Verantwortung für ihren Lernprozess übernehmen, allfällige Defizite orten und Wege vorsehen, um diesen zu begegnen. Hier sind Kompetenzen wie kritische Selbstreflexion, Zeitmanagement, Selbstermächtigung oder Resilienz notwendig. Die Hochschulen stehen hier ebenfalls in der Pflicht, ihren Studierenden diese Kompetenzen zu ermöglichen – allerdings ist dies eine übergeordnete Aufgabe, die über einen Studiengang hinweg koordiniert in Angriff genommen werden muss und nicht jede:r einzelnen Dozent:in obliegt.  
  • Transparenz und Entanonymisierung: Damit Studierende überhaupt zu einem selbstverantwortlichen Umgang mit fehlenden Kompetenzen finden können, müssen zwei wichtige Voraussetzungen erfüllt sein. Die Studierenden müssen erkennen, dass und wo ihnen Kompetenzen fehlen, und sie müssen es normal finden, darüber zu sprechen. Es muss für Studierende also selbstverständlich sein, sich und anderen einzugestehen, dass sie in bestimmten Bereichen nacharbeiten müssen. Dazu können Lehrende in mehrfacher Hinsicht beitragen: Sie können erstens transparent machen, welche Eingangskompetenzen sie für ein Modul erwarten, und den Studierenden z. B. mit einfachen Eingangstests aufzeigen, ob sie diese schon mitbringen. So können Studierende frühzeitig erkennen, wo sie stehen. Lehrende können zweitens transparent machen, welche Abschlusskompetenzen sie für ein Modul erwarten. So können Studierende abschätzen, wie weit ihr individueller Weg bis zu diesen Lernzielen ist. Lehrende können schliesslich deutlich machen, dass es in Ordnung ist und gute Gründe dafür gibt, wenn einzelne Studierende ein geringeres Vorwissen haben. Indem Lehrende die vermeintliche Homogenität als Mythos entlarven, erleichtern sie es den einzelnen Studierenden, mit Fragen auf Kollegen zuzugehen oder zu erkennen, dass sie besondere Leistungen erbringen müssen, um die Lernziele zu erleichtern. Transparenz und Entanonymisierung kommen natürlich auch Studierenden mit überdurchschnittlichem (Vor-)Wissen entgegen. Diese fühlen sich bestärkt und sehen sich eher in der Lage und legitimiert, ihre Mitstudierenden zu unterstützen – oder auch einmal guten Gewissens am Tag vor der Prüfung ins Freibad zu gehen.   
  • Innere Differenzierung: Als innere Differenzierung gilt die erwähnte Möglichkeit, Studierenden verschiedene Lernwege zu ermöglichen. Prototypisch geschieht dies durch Aufgaben mit unterschiedlichem Niveau, durch zusätzliches Material für schwächere Studierende oder individuelle Betreuung dieser Studierenden. Diesen Methoden ist allerdings gemein, dass sie für die Lehrperson einen erheblichen Mehraufwand mit sich bringen – sie sind deshalb sicher zielführend, können aber nicht die einzige Antwort auf Leistungsheterogenität sein. Vielversprechend sind deshalb auch Sozialformen, bei denen Studierende von- und miteinander lernen, etwa durch Lern-Tandems oder die Gruppenpuzzle-Methode, bei der Studierende als Expert:innen in einzelnen Bereichen Wissen an andere Studierende weitergeben. Auch das Potenzial, das die Mitarbeit von studentischen Tutor:innen mit sich bringt, wird an Schweizer Fachhochschulen nicht ausgeschöpft. Das Engagement von Tutor:innen ist nicht nur vergleichsweise günstig, sondern stellt auch für die beteiligten Tutor:innen einen Gewinn dar. Weitere Möglichkeiten der Binnendifferenzierung bestehen darin, Lerninhalte ins digitale Selbststudium auszulagern. Dies erfordert zwar ebenfalls einen Initialaufwand, kann aber für verschiedene Studierendengruppen im gleichen oder in aufeinanderfolgenden Jahrgängen mehrmals genutzt werden. Schliesslich können Studiengänge auch auf curricularer Ebene und durch eine vermehrte Arbeitsteilung unter den Lehrenden auf Heterogenität reagieren. So können die gleichen Inhalte je nach Vorwissen der Studierenden in einem oder in zwei Semestern vermittelt werden, oder es können parallel Kurse für Studierende mit oder ohne fachspezifischer Vorbildung geführt werden.  

Die Heterogenität der Studierenden ist auch eine Folge des Schweizer Bildungssystems, das jungen Menschen individuelle, zeitlich flexible Wege zu jener Ausbildung ermöglicht, die für sie am besten passt. Dies ist manchmal anstrengend – für die Studierenden, aber auch für die Lehrenden. Dass die Lehrenden damit zu einem anerkannten Erfolgsmodell beitragen, mag ein guter Trost für den zusätzlichen Aufwand sein, den die Heterogenität der Studierenden mit sich bringt.  

 

Weiterführende Literatur:  

Richter, R. (2013). Vielfalt als Chance. Konstruktiver Umgang mit Heterogenität in Lehrveranstaltungen. Tübinger Beiträge zur Hochschuldidaktik. Band 9/2. 2. Auflage. Tübingen: Eberhard Karls Universität.  

 

Zur Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems:  

Kost, J. (2018). Wie durchlässig ist die Schweizer Berufsbildung wirklich? Von erreichten und verpassten Anschlüssen – ausgewählte Analysen zur Durchlässigkeit der Schweizer Berufsbildung. Transfer, Berufsbildung in Forschung und Praxis (1/2018), SGAB, Schweizerische Gesellschaft für angewandte Berufsbildungsforschung. 

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Ein Gedanke zu „Heterogenität als geteilte Aufgabe“

  1. Danke für diesen guten Beitrag. Dieses Lehr- und Lernverständnis teile ich zu 100%, die Umsetzung ist tatsächlich immer wieder herausfordernd und aber auch spannend.

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