Wo bleiben selbstfahrende Züge auf dem Schweizer Schienennetz?

Häufig lesen wir in den Medien Nachrichten über selbstfahrende Autos. Es macht den Anschein, dass wir uns an das Bild von autonom verkehrenden Autos bald gewöhnen werden. Insofern müssten doch selbstfahrende Züge, oder die Digitalisierung des Eisenbahnnetzes, schon längst Realität sein. Züge folgen einem gesicherten Fahrweg und somit sollten die Herausforderungen im Gegensatz zum Auto um Faktoren kleiner sein.

Wie funktionieren selbstfahrende Züge

In der Eisenbahnwelt kennt man die Thematik um selbstfahrende Züge unter dem Begriff «Automatic Train Operation» oder kurz ATO.

Grundsätzlich bietet ATO folgende Vorteile:

  • Optimierter Fahrplan und dadurch Kapazitätssteigerung
  • Energieeinsparungen
  • Reduzierung der Personalkosten

Damit Züge eigenständig verkehren können, müssen zuallererst einige technische Systemvoraussetzungen gegeben sein:

  • Die Strecke muss mit dem Europäischen Zugsicherungssystem oder kurz ETCS ausgerüstet sein.
  • Der Zug muss nebst der ETCS-Ausrüstung eine zusätzliche ATO-Ausrüstung installiert haben.
  • Zwischen dem Zug und dem Zugleitsystem, welches Fahrplanvorgaben für den Zug berechnet, braucht es eine Datenverbindung über Funk.

    Technische Funktionsweise ATO
    Technische Funktionsweise von ATO (Bildquelle: Siemens Mobility)
Aber was sind die Gründe, dass selbstfahrende Züge noch nicht Realität sind?

Generell kann festgehalten werden, dass die obigen technischen Voraussetzungen für ATO heute bereits realisierbar sind.  Es wurden bereits Testfahrten auf Strecken in der Schweiz durchgeführt. Trotzdem gibt es aber Aspekte, welche dazu führen, dass autonom verkehrende Züge noch längst kein alltägliches Bild auf dem Schweizer Schienennetz sind.

Technische Aspekte

Im Ausland kennt man im Metro-Verkehr seit längerem selbstfahrende Züge, welche ohne Lokführer verkehren. Das U-Bahn System kann aber als abgeschottetes System betrachtet werden, wo nicht davon ausgegangen werden muss, dass Menschen auf die Gleise gelangen oder wo ein Zug auf andere unerwartete Hindernisse treffen kann.

Beim Schweizer Schienennetz darf man nicht von einem abgeschotteten System ausgehen. Das heisst, ein selbstfahrender Zug muss in der Lage sein, Hindernisse zu erkennen, um bei Bedarf eine Notbremsung einleiten zu können. Dies ist im Moment die grösste technische Herausforderung, da diese Hindernisserkennung auf eine Distanz von über 400 Metern reagieren muss. Diese Distanz entspricht der heute für einen Lokführer angenommenen Sichtdistanz, um auf Ereignisse reagieren zu können.

Menschliche und gesellschaftliche Aspekte

Nebst den technischen Faktoren gibt es aber auch menschliche, resp. gesellschaftliche Aspekte, welche zu beachten sind. So sind Fahrgäste generell verunsichert, wenn sie sehen, dass keine Person im Führerstand sitzt. Diesem Umstand könnte man natürlich entgegenwirken, indem man die Züge mit getönten Scheiben ausrüstet.

Im Gegensatz zu einem selbstfahrenden Auto hat der Fahrgast eines Zuges keinen persönlichen Nutzen an selbstfahrenden Zügen. Der Nutzen ist hier klar auf der Seite der Eisenbahnunternehmung. Dies führt dazu, dass die Akzeptanz für selbstfahrende Züge bei den Fahrgästen nur bedingt vorhanden ist.

Im Weiteren stehen Arbeitnehmervertretungen und das Eisenbahnpersonal selbst der Thematik eher skeptisch gegenüber, da sie einen Verlust von Arbeitsplätzen befürchten.

Finanzielle Aspekte

Die Eisenbahnunternehmen stehen vor einer erheblichen finanziellen Investition, da sie ihre Infrastruktur technisch modernisieren müssen.

Insbesondere würde es wenig Sinn machen, lediglich einzelne Züge oder einzelne Linien mit ATO auszurüsten. Dies wäre für den gesamten Bahnbetrieb eher ein Störfaktor und das Kosten-Nutzenverhältnis wäre viel zu klein. Um die Vorteile selbstfahrender Züge optimal nutzen zu können, muss es das Ziel sein z.B. ein ganzes S-Bahn-Netz einer Eisenbahnunternehmung mit ATO auszurüsten.

Fazit

Aus den oben genannten Gründen bin ich der Meinung, dass es doch noch einige Jahre gehen wird, bis selbstfahrende Züge ein alltägliches Bild auf dem Schweizer Schienennetz sein werden. Um für die Zukunft gerüstet zu sein, liefern bereits heute gewisse Zughersteller ihre Züge mit eingebauter ATO-Technik (ATO ready) aus, damit die Eisenbahnunternehmen für die Zukunft gerüstet sind. Selbstfahrender Zugsbetrieb kann sich aber bereits heute insbesondere dort lohnen, wo monotone Betriebsabläufe wie z.B. einem Autoverlad in einem Tunnel vorherrschen.

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Peter Reichmuth

Peter Reichmuth ist Teamleiter und Innovationsmanager bei der Siemens Mobility AG und begleitet in dieser Rolle die digitale Transformation des Engineerings. Er bloggt aus dem Unterricht des CAS Digital Transformation.

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