Stille Post-Effekt im Requirements Engineering

Das Spiel „Stille Post“ illustriert eindrucksvoll, wie leicht Informationen beim Weitergeben verfälscht werden können. Ein Missverständnis nach dem anderen schleicht sich ein, bis die ursprüngliche Information völlig verzerrt ist. Während diese Situation im Spiel bei allen Kindern für Gelächter sorgt, kann das im Requirements Engineering zu gravierenden Problemen führen. Erfahre, wie du mit Prototyping den ‚Stille Post‘-Effekt elegant umgehst.

Ein bekanntes Szenario: Ein Stakeholder wünscht sich eine Filterfunktion auf der Webseite, die er für die Produktsuche vornehmen kann. Kurze Zeit später erhält er seine gewünschte Funktion. Er sieht nicht begeistert aus, obwohl die Suche nun eine Filter-Funktion hat. Der springende Punkt: Die gesetzten Filter erfordern einen Klick am Ende der Seite. Das ist unpraktisch und somit nicht sehr benutzerfreundlich. Das erinnert ein bisschen an Stille Post, nur teurer und weniger lustig.

Zwischen der gestellten Anforderung und der enttäuschten Reaktion des Stakeholders liegen viele aufwendige Schritte. Zahlreiche Funktionen wurden entwickelt, getestet und veröffentlicht. Dieser Prozess ist nicht nur zeitaufwendig, sondern auch kostspielig. Wie hätte das verhindert werden können? Die Antwortet lautet: Prototyping.

Prototyping – Der Schlüssel zum gemeinsamen Verständnis

Prototyping ermöglicht es den Stakeholdern, frühzeitig einen visuellen Eindruck vom Endprodukt zu gewinnen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass ein gemeinsames Verständnis der Anforderungen und Erwartungen entsteht.

Beim Prototyping werden die wesentlichen Funktionen und Benutzeroberflächen des Produkts in einem frühen Stadium erstellt. Dies kann in Form von Wireframes, Mockups oder einfachen Papierprotoypen erfolgen. Durch den Einsatz von Prototypen können die Stakeholder das Produkt erleben und Feedback geben, noch bevor die eigentliche Entwicklung beginnt.

Prototyping bietet eine Vielzahl von Vorteilen, die sich positiv auf den gesamten Entwicklungsprozess auswirken. Zu den wichtigsten Vorteilen zählen:

Kosteneinsparungen

Durch den Einsatz von Prototyping können potenzielle Probleme und Missverständnisse frühzeitig identifiziert und behoben werden. Dies reduziert die Notwendigkeit kostspieliger Änderungen in späteren Projektphasen. Da die Kosten für Änderungen in den frühen Phasen des Projekts deutlich geringer sind, lassen sich durch Prototyping erhebliche Kosten einsparen. Fehler, die früh entdeckt werden, sind wesentlich günstiger zu beheben als solche, die erst während der Entwicklung oder nach dem Launch festgestellt werden.

Verlauf der Kosten für Änderungen (Cost of Change) und der Freiheit, Änderungen vornehmen zu können (Freedom of Change) über den Projektzeitraum (Quelle: cityinnovations.com)

Die oben abgebilde Kurve zeigt auf, wie im Verlauf eines Projektes die Kosten für Änderungen (Cost of Change) steigen, während die Freiheit, Änderungen vorzunehmen (Freedom of Change), sinkt.

Erhöhte Geschwindigkeit

Durch Prototyping können niederschwellig und sehr schnell erfahrbare Produktmodelle entstehen. Das Ergebnis ist sofort ersichtlich und es braucht keine teuren Tools – in sehr frühen Phasen reicht oft ein Blatt Papier und ein Stift, um die Idee grob zu skizzieren. Entwickler und Stakeholder können dadurch schnell visuelle Modelle erstellen, testen und optimieren. Dieser einfache und iterative Ansatz führt zu einer raschen Einigung auf die Anforderungen und beschleunigt den Übergang in die Design- und Entwicklungsphase. So werden Missverständnisse und Fehlinterpretationen vermieden und kostspielige Änderungen in späteren Projektphasen minimiert.

Prototyping wirkt schnell

Die Wirkung von Prototyping wird am Ausgangsbeispiel mit der Filterfunktion schnell deutlich:

Der CTA-Button „Ausführen“ ist ganz unten auf der Produktliste platziert. (Bildquelle: Sezer Özkan)

Hätte man nach der Anforderungsstellung mit dem, was man verstanden hat ein Prototyp wie im oberen Abbild erstellt und dem Stakeholder frühzeitig präsentiert, wäre dieses Missverständnis aufgefallen. Durch dieses direkte Feedback hätte die Filterfunktion von Anfang an die Benutzerfreundlichkeit berücksichtigt, um den Bedürfnissen des Stakeholders gerecht zu werden.

Während im „Stille Post“ Abweichungen für Gelächter sorgen, ermöglicht Prototyping im Projektumfeld diese Abweichungen frühzeitig zu identifizieren und sicherzustellen, dass die erhaltenen Informationen korrekt interpretiert werden. Damit wird Prototyping nicht nur zu einem Werkzeug der technischen Umsetzung, sondern zu einem essenziellen Bestandteil des erfolgreichen Requirements Engineerings.

Setzt ihr Prototyping ein? Welche Erkenntnisse habt ihr aus der Anwendung von Prototyping im Requirements Engineering gewonnen? Ich freue mich auf eure Kommentare.

 

Spannende weiterführende Links zum Thema Prototyping:

https://t2informatik.de/wissen-kompakt/prototyp/

https://www.uid.com/insights/prototyping/

https://de.ryte.com/wiki/Paper_Prototyping

https://www.pluspol-interactive.de/innovation/rapid-prototyping/

https://topflightapps.com/ideas/figma-for-prototyping/

https://www.mosaiic.de/low-fidelity-vs-high-fidelity-prototyp-wie-sie-die-richtige-detaillierungsstufe-auswaehlen/

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Sezer Özkan

Sezer Özkan ist Product Owner bei GS1 Switzerland und bloggt aus dem CAS Requirements Engineering. Seine täglichen Herausforderungen im Umgang mit Anforderungen und sein Wissen über Prototyping haben ihn dazu motiviert, seine Erkenntnisse und bewährten Praktiken in diesem Blog zu teilen.

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