Paradigmenwechsel in der Energiewirtschaft – Requirements Engineering und Prozessautomatisierung

Die Energiebranche steht vor grossen Herausforderungen. Globale Versorgungsengpässe und regionale Ereignisse stellen insbesondere kleinere Energieversorgungsunternehmen vor erhebliche Herausforderungen. In einer so stark von externen Einflussfaktoren geprägten Umgebung bleibt nur die Differenzierung über die internen Prozesse und innovative Lösungen. Der Schlüssel zum Erfolg heisst oft Automatisierung. 

Prozesse und Abläufe innerhalb eines Energieversorgungsunternehmens sind über Jahrzehnte organisch gewachsene Strukturen. Hinter den beteiligten Rollen stehen oft Personen mit ebenso langer Erfahrung. Wird ein Prozess digital transformiert, stellt dies eine besondere Herausforderung dar. Die etablierten Prozesse stehen nicht im luftleeren Raum, sondern sind in ein komplexes Netz aus Systemen und anderen Prozessen eingebettet. Die Automatisierung ermöglicht oft neue Geschäftsmodelle, oder es ergeben sich in bereits erschlossenen Feldern neue Möglichkeiten. Ein Beispiel hierfür ist der über den Preis gesteuerte Intradayhandel. Hier wird am Liefertag je nach Marktpreis bis 15 Minuten vor Lieferung elektrische Energie gekauft oder verkauft.

Prozessautomatisierung: kein Requirements Engineering (RE) ohne Business Process Engineering (BPE)

Um komplexe Prozesse zu transformieren, ist es essenziell diese zuerst zu identifizieren und auf ihr Automatisierungspotential zu prüfen. Oft ergibt es Sinn, die Automatisierung eines Prozesses in Etappen anzugehen. Da das geplante Endziel einen wesentlichen Einfluss auf die Architektur der angestrebten Lösung hat, muss dieses immer im Fokus stehen. Sind der Soll-Prozess modelliert und die Automatisierungsgrenzen definiert, kann mit dem eigentlichen RE begonnen werden. RE stellt sicher, dass alle Anforderungen an die neue Lösung vollständig erfasst und verstanden werden. Weiter wird der iterative Ansatz des BPE durch sauber erhobene Anforderungen gestärkt, da somit immer wieder darauf zurückgegriffen werden kann.

Persönliche Herangehensweise

Um einen groben Überblick zu erhalten, unterteile ich den zu automatisierenden Prozess in bestehende und neue Aktivitäten. Bei bestehenden Aktivitäten ist oft bereits klar, welche Ressourcen (Daten, Schnittstellen, etc..) benötigt werden und welche Ergebnisse zu erwarten sind. Für neue Aktivitäten muss dies erst erarbeitet werden. Als weiterer Schritt folgt die Klärung, ob und wie auf vorhandene Business-Logik zurückgegriffen werden kann. Grundsätzlich verfolge ich den Ansatz, möglichst wenig vorhandene Business-Logik nachzubauen. Meist sind entsprechende Systeme vorhanden, die durch den verantwortlichen Fachbereich betreut werden. Als Beispiele können die Kurzfristprognose im Energiedatenmanagement System oder die Stammdatenverwaltung im ERP-System genannt werden. Hier steht primär im Fokus, wie auf die entsprechende Ressource zugegriffen werden kann. Da im automatisierten Prozess meist Daten erzeugt, ergänzt oder kontextualisiert werden, gilt es den passenden Speicherort zu definieren. Ein wichtiges Kriterium hierfür ist, was mit den erhobenen Daten nach der Prozessierung geschieht. Werden diese archiviert, oder müssen sie für weitere Systeme oder Prozesse zur Verfügung stehen? Sind die dem Systemkontext zuzuordnenden Fragen geklärt, befasse ich mich mit der Struktur der Daten. Meist ergibt es sich, dass die entsprechenden Geschäftsobjekte in der dafür vorgesehenen Datenbank der zugehörigen Fachanwendung gespeichert werden. Beispielsweise Messzeitreihen werden in der Messdaten-Datenbank des Energiedatenmanagement Systems gespeichert. Dieser Umstand erlaubt es, die entsprechenden Attribute des Objekts von der Datenbankstruktur abzuleiten. Abschliessend definiere ich mit dem Fachbereich das Verhalten der einzelnen Aktivitäten. Hierbei wird auch definiert, welches Ergebnis die einzelne Aktivität gemäss Business-Logik liefern soll. So lassen sich die implementierten Funktionen schlussendlich auch testen.

Stolperstein: Zu schnell, zu viel

Insbesondere unter Einsatz von Prozess Engins mit Low-Code Ansatz wird oft die Analyse und das Erheben und Dokumentieren von Anforderungen vernachlässigt. Die Möglichkeit, sehr schnell konkrete Ergebnisse zu erzielen verleitet dazu, sich sofort in die Umsetzung zu stürzen. Bei sehr einfachen Problemstellungen und vor allem in der Anfangsphase lassen sich so beachtliche Erfolge erzielen. Für die Automatisierung von komplexen Geschäftsprozessen ist dieses Vorgehen allerdings fatal, da sich bei steigender Komplexität zwangsläufig Fehler in der Architektur einschleichen. Oft werden Abhängigkeiten vernachlässigt, welche bei näherer Betrachtung hätten erkannt werden können, oder es werden ungewollte Abhängigkeiten geschaffen.

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Michael Reinhard

Michael Reinhard ist Leiter Business Integration im Elektrizitätswerk Obwalden und bloggt aus dem Unterricht des CAS Requirements Engineering.

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