Während den letzten fünf Jahren haben Musikstreaming-Dienste die gesamte Musikindustrie sowie unser tägliches Musikhören wesentlich verändert. Mit Big Data und Algorithmen beeinflussen Streaming-Dienste zudem auch die künstlerischen Freiheiten der Musikschaffenden. Damit die Verschiedenartigkeit der Musik in der Zukunft weiterhin garantiert wird, dürfen aber nicht nur die Musikstreaming-Dienste und Musikvertriebe in die Pflicht genommen werden, sondern auch die Nutzer.
Wer kennt sie nicht, die Giganten der Musikstreaming-Dienste wie Spotify, Apple Music, Deezer, YouTube & Co.? Viele von uns besitzen einen dieser Streaming-Dienste, die sehr einfach und schnell auf allen gängigen Mobile Phones, Tablets und PCs installiert werden können. Mit der Installation gehen wir gleichzeitig auch eine brisante «Hochzeit» ein. Wir erlauben dem Algorithmus, dass er uns täglich besser kennen lernt. An sich ein wesentlicher und erwünschter Grundpfeiler einer «Ehe», aber nicht in diesem Fall.
Noch einschneidender sieht man den Einfluss der Musikstreaming-Dienste in der produzierenden Musikindustrie. Waren einst Jugendbewegungen in den Nachkriegsjahren, Musiklabels, Radio Stationen oder Musikclubs die treibende Kraft neuer Musikrichtungen oder -bewegungen, sind es heute hochkomplexe Algorithmen, die bestimmen was wir hören werden. Zweifelsohne beeinflussen Radio Stationen und Musikclubs die Musikschaffenden weiterhin, aber deren Playlisten unterliegen keinen Algorithmen und persönlichen Daten der Zuhörer. Das lässt allemal auch Spielraum für Manipulationen offen – was gespielt wird hat Erfolg, oder nicht?
Schauen wir den Algorithmus am Beispiel von Spotify an.
Das Streaming-Abonnement wird eröffnet und Big Data initiiert. Bei der Anmeldung wird von jedem Nutzer ein persönliches Profil angelegt. Darin abgespeichert sind alle Songs, Alben, Künstler, Playlisten, Podcasts und der Standort wo wir die Musik für wie lange anhören. Dazu gesellen sich Indikatoren wie die Klangfarbe, die Emotionen der Melodie, die eingesetzten Instrumente, das Tempo, Höhen und Tiefen und vieles mehr eines jeden Songs. Die Musik wird vollständig entschlüsselt, sprich sequenziert und identifiziert analog der menschlichen DNA. Mehr dazu auch unter: The Music Genome Project. Anschliessend setzten Streaming-Dienste hochentwickelte Technologien geschickt ein, um aus den gesammelten Informationen den persönlichen, musikalischen Takt aller Nutzer zu erstellen. Dauernd suchen sogenannte Algorithmen im World-Wide-Web nach weiteren Musikpräferenzen, Kommentaren in sozialen Medien, Tweets und anderen Quellen und speichern diese zusätzlich im persönlichen Profil ab. Oder einfacher ausgedrückt, der Algorithmus liest und hört überall mit! Eines Tages werden wir die Songs auf der Playliste vorgeschlagen bekommen, die exakt zu unserer Tagessituation passen – ist doch toll, oder nicht? Mehr dazu auch unter: Wie funktioniert der Spotify Algorithmus?
Und was heisst das jetzt für die Musiker*innen und Künstler*innen?
Um den Erfolg und Ruhm eines Weltstars zu erlangen, ist es heutzutage erfolgsversprechender, sich mit Big Data und den Algorithmen der Musikstreaming-Dienste auseinander zu setzten. Die sogenannten „Playlisten“ sind der Schlüssel zum Erfolg und darauf gelistet zu werden, ist das Bestreben eines jeden Musikschaffenden. Diese Entwicklung hat in der Musikindustrie durchaus seine positiven Seiten. Musiker*innen und Künstler*innen sind nicht mehr dem Goodwill der Musikvertrieben wie Universal Music, Warner Music, Sony Music & Co. ausgesetzt. Die Musikrechte bleiben in ihrer Hand und sind – bei entsprechendem Erfolg – ihre persönliche «Altersvorsorge». Ein Beispiel dafür ist der Verkauf der Musikrechte von Bob Dylan für geschätzte 300 Millionen USD (Medienbericht vom 9.12.2020). 2007 gründeten Alexander Ljung und Eric Wahlforss Soundcloud, das Pendent zu Flickr für Fotos und Vimeo für Videos. Diese Plattform dient zum Austausch und zur Verteilung von Musikdateien. So betreibt zum Beispiel Paul McCartney seinen eigenen, exklusiven Musikstreaming-Kanal auf Soundcloud. Auch Billie Eilish veröffentlichte 2015, damals erst 14 Jahre alt, ihren ersten Song auf Soundcloud. Innerhalb von zwei Wochen sammelte der Song mehrere hunderttausende Klicks. Ein märchenhaftes Beispiel, das einen weiteren Vorteil der Musikstreaming-Dienste aufzeigt. Egal wo auf der Welt, richtig eingesetzt, haben Newcomers und Musikschaffende realistische Chancen, Weltstars zu werden. Mehr dazu auch unter: Warum Spotify eine geniale Plattform für Newcomer ist?
Die Vorteile kommen selbstverständlich nicht ohne Nachteile.
Die Nutzer aller Musikstreaming-Dienste geben die Musikrichtung mit all seinen Indikatoren vor. Der Faktor Zeit erhält in der Musikindustrie eine neue Dimension. Während früher die Musikschaffenden ein Feedback ihres kreativen Schaffens über Wochen und Monate sammelten, erledigt das heutzutage der Algorithmus innerhalb von Sekunden und Minuten. Das Intro wird dadurch stets kürzer, denn der Mensch neigt immer mehr zur Ungeduld und ein Song überspringen, heisst für die Musiker*innen und Künstler*innen soviel wie nicht auf den Playlisten erscheinen. Wichtig sind die Rhythmen. Texte sind zweitranging und müssen gar nicht verstanden werden.
Paul McCartney sagte einst: «Wenn dein Refrain grösser als die Welt ist, ist es egal, was im Verse passiert.» (Quelle Radio SRF3, 2017)
Das folgende Video „When will the bass drop“ zeigt auf, dass Lebensgefühl und Freiheit wichtiger sind als der Inhalt.
Warum sind Musikstreaming-Dienste so schnell so populär geworden?
Alle Musikstreaming-Dienste und auch Videostreaming-Dienste wie Netflix & Co., ermöglichen den Konsumenten für wenig Geld jederzeit und überall Musik und Videos zu konsumieren. Dieser raschen Entwicklung, vor allem während den letzten fünf bis zehn Jahren, konnte die bis dato bewährte Musikindustrie nicht mehr nachkommen. Somit eröffnete sich eine neue Marktlücke, die von den Musikstreaming-Diensten geschickt erkannt und bis heute zu einem gigantischen Business ausgebaut wurde. Massiv gepusht wurde diese Entwicklung vor allem auch durch die digitale Transformation. Standen früher Produkte wie die Schallplatten, Kassetten oder CDs jahrzehntelang im Vordergrund, sind es heutzutage die Services der Musikstreaming-Dienste, auch bekannt unter dem Begriff «Service on Demand».
Ein wenig Gegensteuer geben!
Musikstreaming-Dienste sind nicht mehr wegzudenken. Sie werden die zukünftigen Musikrichtungen oder -bewegungen weiter beeinflussen und ihre Erfolgskonzepte wohl kaum grundlegend verändern. Wie oder wer kann hier Gegensteuer geben? Zum einen sind es die Musikschaffenden selber, die ab und zu aus diesen Strukturen ausbrechen können, um mutig (ausserhalb aller Streaming-Dienste) ihr künstlerisches Schaffen einem breiteren Publikum vorzustellen. Auf der anderen Seite haben es aber auch die Nutzer von Streaming-Diensten in der Hand, ihr Hörverhalten zu verändern, um Neues zu entdecken – sei es auch nur durch Besuche an Konzerten, Musikfestivals oder anderen Veranstaltungen.
In diesem Sinne wünsche ich mir für die Zukunft wieder mehr künstlerisches Schaffen und die eine oder andere spannende neue Musikrichtung oder Musikbewegung.