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Künstliche Menschen: Ein Blick in die Ahnengalerie

Der Begriff der Künstlichen Intelligenz resp. der Artificial Intelligence lässt sich bis ins Jahr 1955 zurückverfolgen. In einem Förderantrag bat der US-amerikanische Informatiker John McCarthy die finanzstarke Rockefeller Foundation um die Finanzierung einer Summer School, an der führende Wissenschaftler an den Grundlagen für eine Maschine arbeiten sollten, welche die menschliche Intelligenz simulieren könne. «An attempt will be made to find how to make machines use language, form abstractions and concepts, solve kinds of problems now reserved for humans, and improve themselves”, heisst es in dem Antrag. Der Antrag war erfolgreich, sodass die beantragte Forschungsklausur am Dartmouth College im US-Bundesstaat New Hampshire ein Jahr später stattfinden konnte. Das gesellschaftliche Umfeld war stimulierend: Die US-amerikanische Wirtschaft wuchs rasch, der Glaube an die Verheissungen der Zukunft war immens, das Bewusstsein für etwaige Risiken gering. Die Vorstellung, der menschliche Intellekt liesse sich dereinst simulieren, schien faszinierend und erreichbar zugleich.

Auch wenn sich die Wissenschaftler auf dem Weg dorthin auf neue, bisher ungeahnte technische Möglichkeiten stützen konnten, war ihre Idee keineswegs neu: Die Vorstellung, dass der Mensch Maschinen baue, die ihm ebenbürtig oder zum Verwechseln ähnlich seien, ist mindestens so alt wie unsere Zeitrechnung. Erzählungen von menschengleichen Maschinen gibt es schon seit fast 2000 Jahren; und sie bedienen sich stets ähnlicher Narrative: Da ist die Faszination dafür, dass es dem Menschen gelingt, ein künstliches Abbild seiner selbst zu erschaffen, das den eigentlichen Menschen täuschend ähnlich ist. Da ist die Befürchtung, dieses künstliche Abbild könne der menschlichen Kontrolle entgleiten und sich gegen seine eigenen Schöpfer wenden. Da ist die Enttäuschung, wenn die Maschine versagt und ihre Verehrer plötzlich ihr eigentliches, seelenloses Wesen erkennen. Und da ist die Frustration der erschaffenen Maschinen darüber, dass sei trotz ihrer technischen Raffinesse dem echten Menschen doch nicht ebenbürtig seien und ihnen die wahren Freuden des Menschseins verwehrt blieben.

Eine frühe Schilderung eines künstlichen Menschen stammt etwa vom griechischen Satiriker Lukian von Samusata. Er berichtet von einem Gerät, das man in menschliche Kleider hüllen und durch Zaubersprüche zu menschenähnlichen Handlungen beleben kann. Das Motiv fand seither in verschiedenen Variationen regelmässig Eingang in die Literatur. So berichtet im Mittelalter William von Malmesbury von einer belebten Statue, die so lebendig wirkt, dass sich ein glückloser Jüngling in sie verliebt. Dieses Motiv findet sich in der Romantik auch bei E.T.A. Hoffmann wieder, der die wohl berühmteste Erzählung eines künstlichen Menschen in der deutschen Literatur schuf. Die Olimpia in seinem Sandmann sieht so betörend aus, dass sich der junge Nathanael blindlings in sie verliebt und ganze Tage mit ihr verbringt, bevor sie auseinanderfällt und Nathanael tief getroffen von ihr ablässt. Ein solcher Anthropomorphismus – die Zuschreibung menschlicher Eigenschaften – findet auch in Johann Wolfgang Goethes Werk Eingang: Bekannt ist etwa seine Ballade vom Zauberlehrling, der einen Besen belebte und die Geister, die er dergestalt rief, nicht mehr los wurde. Erst der Meister, reich an Erfahrung und Zauberkraft, konnte den wildgewordenen Besen wieder in die Schranken weisen. In Faust, Goethes grossem Sittengemälde, erschafft Fausts Schüler Wagner den Homunculus: «Ein herrlich Werk ist gleich zustand gebracht: Es wird ein Mensch gemacht»», freut sich Wagner, während er den Homunculus in einem Glaskolben gedeihen lässt. Homunculus macht sich mit grossen Plänen auf, die Welt und ihre menschlichen Begehrlichkeiten zu erkunden, muss aber schon bald einsehen, dass ihm das wahre Menschsein verwehrt bleibt.

Die Liste der literarischen Darstellungen von künstlichen Menschen liesse sich fast beliebig verlängern und auch auf die Filmgeschichte ausweiten. Der Computer HAL 900 in Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey oder das sprechende Auto KITT in der 1980er-Kultserie Knight Rider sind berühmte Maschinen, die mit Menschen auf Augenhöhe kommunizieren. ChatGPT oder Google Bard passen auffallend gut in diese Reihe, auch wenn sie keine fiktiven Erfindungen sind. Auch sie sind darauf trainiert, Menschen und insbesondere ein menschliches Kommunikationsverhalten so nachzuahmen, dass sie auf den ersten Blick mit echten Menschen verwechselt werden können.

Im Vergleich zu anderen technischen Errungenschaften, die durch KI möglich werden, scheint eine solche Nachahmung menschlicher Kommunikation eine besondere Faszination auszulösen.

Dennoch zeigt der Blick zurück, dass schon Generationen vor uns mit Faszination und Furcht auf menschenähnliche Maschinen blickten und sich die Frage stellten, ob ihnen künstlich geschaffene Wesen nicht bald den Rang ablaufen würden. Der Blick zurück zeigt aber auch, dass unsere Vorfahren damit stets falsch lagen. Der technische Fortschritt kommt heute zwar dem künstlichen Menschen tatsächlich so nahe wie nie zuvor – doch diese Feststellung traf schon auf die künstlichen Menschen im Mittelalter, in der Romantik oder in den 1950er-Jahren zu. Warum sollte ausgerechnet zu Beginn des 21. Jahrhunderts gelingen, was zuvor während 2000 Jahren nicht glückte?

Die Literaturgeschichte legt also nahe, dass uns ChatGPT und seine Geschwister genauso wenig überflügeln werden wie die Maschinen vor ihnen. Dies mag eine Enttäuschung sein, relativiert es doch die durchaus schmeichelhafte Vorstellung, in besonders spannenden Zeiten zu leben. Angesichts der dystopischen Szenarien, die teilweise rund um generative KI kursieren, ist es aber auch eine beruhigende Nachricht: Auch in Zukunft dürften wir Menschen mit und dank all unserer Facetten einmalig bleiben – einmalig unzulänglich und komplex, aber auch einmalig genial und liebenswert.

Illustration

Die Illustration zum vorliegenden Beitrag wurde vom Bildgenerator Stable Diffusion AI Image Generator aufgrund der Eingabe «Homunculus» erzeugt. Die von Stable Diffusion erzeugten Bilder unterliegen gemäss Angaben auf der Website von Stable Diffusion der offenen Lizenz CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication.

Erwähnte Literatur

Lukian von Samusata (ca. 150): Philopseudes.

William von Malmesbury (1124): De Gestis Regum Anglorum libri quinque.

E.T.A Hoffmann (1816). Der Sandmann.

Johann Wolfgang Goethe (1797): Der Zauberlehrling.

Johann Wolfgang Goethe (1832): Faust II. Der Tragödie zweiter Teil.

Weitere Quellen:

Frenzel, Elisabeth (1999): Motive der Weltliteratur. 5. Auflage. Stuttgart: Kröner. S. 511-522.

McCarthy, John, et al. (1955): A Proposal for the Darthmouth Summer Research Project on Artificial Intelligence. https://www-formal.stanford.edu/jmc/history/dartmouth/dartmouth.html

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