ChatGPT sollte eigentlich Fragen beantworten. In der Hochschullehre wirft das Programm indes aktuell mehr Fragen auf, als es beantwortet. Die Diskussion zeigt, wie sehr die Hochschullehre um einen sinnvollen Umgang mit Künstlicher Intelligenz ringt. Die Hochschulen tun dabei gut daran, KI-Anwendungen als Chance und nicht als Bedrohung zu sehen. Dies bedingt allerdings eine Rückbesinnung auf ihre grundlegenden Aufgaben. Eine Veranstaltung zur Hochschulentwicklung der HSLU greift die Thematik am 28. März 2023 auf.
Bei Downton Abbey war es das Telefon. Die britische Kultserie zeichnet mit viel Liebe zum Detail das Leben einer Adelsfamilie und ihrer Dienerschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach. Eine der modernen Zumutungen, die in dieser Zeit über die Familie hereinbrechen, ist das Telefon, das der fortschrittliche Lord Grantham 1914 installieren lässt. Adelsleute und Gesinde scharen sich um das ausladende Gerät, die einen skeptisch, die anderen neugierig, die dritten gar ängstlich. «Zuerst die Elektrizität, jetzt das Telefon», seufzt die Mutter des Lords. Wofür das neue Gerät tatsächlich gut sein könnte, kann sich niemand so richtig vorstellen, und als es dann tatsächlich klingelt, zucken alle vor Schreck zusammen.
Eine ähnliche Schreckstarre schien sich an manchen Hochschulen breit zu machen, als im Dezember letzten Jahres deutlich wurde, wozu die Internet-Anwendung ChatGPT fähig ist. In tadellosem Deutsch oder gepflegtem Englisch beantwortet sie Fragen und gibt auf Wunsch ganze Abhandlungen von sich. Die Sonntagspresse fragte sich, ob nun das Ende der Hausarbeit eingeläutet sei, und bei Lehrenden machte sich die Sorge breit, künftig mit Texten konfrontiert zu sein, die wie von Geisterhand geschrieben wurden.
Der Schreck verfehlte seine Wirkung nicht: Inzwischen finden sich in den einschlägigen Foren zahlreiche Überlegungen und Leitlinien für einen sinnvollen Umgang mit ChatGPT und anderen KI-basierten Anwendungen im Hochschulunterricht. Im Folgenden greife ich einige Überlegungen heraus, die mir wegweisend erscheinen:
Digital Literacy
Dass Arbeitsschritte automatisiert werden, ist an sich nichts Neues. Dies gilt auch für grundlegende Kulturtechniken, die an Schule und Hochschule vermittelt werden: 1976 kam der Taschenrechner TI30 von Texas Instruments auf den Markt und führte schlagartig zur Frage, was dies für den Rechenunterricht heisse. Unauffälliger, aber ebenso wirkungsvoll war die kontinuierliche Einführung und Verbesserung der Rechtschreibe-Korrektur in Microsoft Words, die vor ca. 20 Jahren grobe Orthografie-Fehler erkannte, heute aber auch Fallfehler findet und stilistische Verbesserungen vorschlägt. Seit etwa 2015 revolutionieren Dienste wie DeepL oder Google Translate die Art und Weise, wie wir fremdsprachige Texte verfassen. Schulen und Hochschulen können sich diesen Entwicklungen nicht verschliessen, wollen sie nicht einen letztlich aussichtslosen Kampf gegen Windmühlen führen. Es geht also darum, wie wir Studierenden einen sinnvollen und kritischen Umgang mit solchen Technologien vermitteln können. Die Vermittlung einer Digital Literacy gewinnt damit zunehmend an Bedeutung.
Kreativität
ChatGPT beruht auf einem Sprachmodell: Es geht dem Dienst darum, Inhalte sprachlich korrekt und gepflegt darzulegen. Die entsprechenden Inhalte klaut sich ChatGPT nach – noch – weitgehend intransparenten Kriterien irgendwo im Internet zusammen, manchmal sind die entstehenden Informationen auch falsch. Der Dienst stützt sich aber stets auf Informationen, die schon da sind. Auch sprachlich bewegt er sich stets in bestehenden Normen. Neues, Kreatives und Unkonventionelles kann er nicht liefern – weder inhaltlich noch sprachlich. Genau diese Qualitäten stehen aber meist im Zentrum von Hochschul-Studiengängen: Studierende finden eigene Wege und neue Lösungsansätze für aktuelle Fragestellungen. Diese Arbeit kann ihnen ein Roboter bis auf Weiteres nicht abnehmen. Es geht also darum, Studiengänge noch konsequenter auf diese Qualitäten auszurichten. Wenn Studierende dann bei der Verschriftlichung ihrer Ideen stellenweise auf technische Unterstützung zurückgreifen, scheint dies legitim.
Akademische Integrität
Im Moment legt ChatGPT nicht dar, wo es seine Informationen hernimmt. Wer Texte (oder andere Informationen) aus dem Dienst übernimmt, kennt die ursprünglichen Quellen nicht. Dies verstösst grundlegend gegen die Logik und die Regeln wissenschaftlichen Arbeitens. Studierende müssen daher ein ausgeprägtes Verständnis für wissenschaftliche Vorgehensweisen und akademische Integrität entwickeln. Auf dieser Grundlage können sie dann auch ChatGPT und andere Programme sinnvoll nutzen und entscheiden, wo sie die Unterstützung der Dienste nutzen können und wo nicht.
Hochschulbildung als persönliche Entwicklung
Studierende studieren, weil sie etwas lernen möchten. Was selbstverständlich klingt, ist häufig im Alltag für Studierende und Lehrende nicht mehr so klar: Oft geht es um Punkte, Abgabetermine und gut prüfbares Wissen. Damit entsteht ein Klima, in dem technische Unterstützung als Abkürzung auf einem an sich unnötigen Weg gesehen wird, auch wenn sie weder zielführend noch zulässig ist. Den Hochschulen muss es hier gelingen, Studierende davon zu überzeugen, dass Lernen an sich ein Mehrwert ist und sich die Studierenden mit Abkürzungen keinen Gefallen tun. Dafür braucht es eine entsprechende Hochschul-Kultur, aber auch sinnvolle Lernarrangements und Prüfungen, bei denen für die Studierenden mehr herausschaut als eine schriftlich mitgeteilte Abschlussnote.
Enge Begleitung
Auch eine enge Begleitung bei studentischen Arbeiten reduziert die Wahrscheinlichkeit, dass Studierende KI-basierte Unterstützung auch dort nutzen, wo sie den Zielen eines Studiums zuwiderlaufen. Wenn Lehrende ihre Studierenden während einer Projekt-, Semester- oder Abschlussarbeit eng begleiten, sehen sie Ausgangspunkt, Zwischenresultate und Endergebnis der Arbeit. Dies schafft Verbindlichkeit und signalisiert den Studierenden, dass letztlich auch der Prozess zählt. Sich hier unerlaubte Hilfe zu holen – sei es von einer Künstlichen Intelligenz, dem älteren Bruder oder einer professionellen Ghostwriterin –, fällt sowohl fachlich als auch menschlich schwerer. Sind Arbeiten zudem in einen grösseren Kontext eingebettet, weil sie etwa Teil eines Projekts sind oder weil ihre Resultate in irgendeiner Form genutzt und weiterverwendet werden, erscheinen sie sinnstiftend. Auch dies motiviert dazu, die Arbeiten ohne Unredlichkeiten zu erstellen.
Mündliche Prüfungen und Klausurprüfungen
Mit klugen Aufgabenstellungen und einer engen Begleitung lassen sich allerdings nicht alle Szenarien abdecken, bei denen die Verwendung von unerlaubten Hilfsmitteln verhindert werden soll. In manchen Fällen möchten Hochschulen Wissen und Kompetenzen legitimerweise so überprüfen, dass die Verwendung von unerlaubten Hilfestellungen möglichst ausgeschlossen werden kann. Dies ist etwa dann der Fall, wenn Studierende wichtiges Grundlagenwissen unter Beweis stellen und sich so für den weiteren Studienverlauf qualifizieren sollen oder wenn Hochschulen mit ihren Zertifikaten bestätigen, dass ihre Absolvent:innen gewisse Kompetenzen à fond und ohne Hilfe umsetzen können. In solchen Fällen sind offene Prüfungsformate nicht geeignet. Für solche Fälle bleiben Hochschulen aber nach wie vor mündliche Prüfungen oder die klassische Klausurprüfung, bei der Studierende – notfalls mit Papier und Kugelschreiber – ihr Wissen und ihre Kompetenzen unter Aufsicht demonstrieren. Das Prüfungsformat geniesst zwar einen zweifelhaften Ruf, ermöglicht aber nach wie vor eine zuverlässige Überprüfung von deklarativem Wissen und klar definierbaren Kompetenzen. Gewisse Dinge sind also auch heute noch so wie vor 100 Jahren – ein wertvoller Trost für die Mutter des fortschrittlichen Lord Graham in Downton Abbey.
Veranstaltung zur Hochschulentwicklung
Für Angehörige der HSLU findet am 28. März 2023 eine Veranstaltung zur Hochschulentwicklung zu Lernen mit und über KI an Hochschulen statt. Nach zwei einführenden Referaten zu technischen Grundlagen von KI (Dr. Donnacha Daly, Studiengangleiter Artificial Intelligence and Machine Learning, HSLU-Informatik) und zu Digital Literacy und Informationskompetenz als Aufgaben der Hochschullehre (Dr. David Loher, Lehrentwickler, ZLLF) wird das Thema in Workshops vertieft.
Di, 28. März 2023, 17.00 bis 19.00 Uhr; HSLU – Musik, Arsenalstrasse 28a, Kriens.
Anmeldung
Weiterführende Links:
Kommentierte Link-Sammlung des deutschen Hochschulforums Digitalisierung zu KI:
https://hochschulforumdigitalisierung.de/de/blog/chatgpt-im-hochschulkontext-kommentierte-linksammlung
Handreichung von ProLehre der Technischen Universität München:
https://www.prolehre.tum.de/fileadmin/w00btq/www/Angebote_Broschueren_Handreichungen/prolehre-handreichung-chatgpt-v2.2.pdf
Video-Ausschnitt aus Downton Abbey: The Telephone arrives
https://youtu.be/I4slJoAftGE
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