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Schienen führen in den Horizont bei dramatischer Bewölkung

Von der Gleiszeitigkeit von Vorstellung und Realität

oder: Warum Improvisation der Lehre zugträglich ist.

«Ein Projekt aufgleisen». Das war die erste Redewendung, die ich nach nicht einmal einem Monat aus dem Schweizerdeutschen in meinen eigenen Sprachgebrauch integriert hatte. Früher hatte ich als Deutscher immer nur «auf den Weg gebracht». Aber der Weg kann auch sehr kurvig sein, Schlaglöcher haben und im Graben enden. Heute gleise ich auf eine ebene Trasse und kann Vollgas geben.

So sehr habe ich die Redewendung verinnerlicht, dass ich selbst über Vergangenes mittlerweile anders spreche. Ich wusste es damals natürlich nicht, aber auch mein Seminar «Virtual Reality in der Hochschullehre» hatte ich vor zwei Jahren aufgegleist: Das zugrundeliegende Konzept war und ist bis heute das durchtrassteste, das ich jemals entwickelt hatte. Die Schlüssigkeit meiner Gedanken, die hineinflossen, war bestechend und unter-, geradezu überfüttert mit Theorie und empirischen Befunden zur Hochschullehre und Medienpsychologie gleichermassen. Immerhin war die Konzeption und Durchführung des Seminars «Virtual Reality in der Hochschullehre» auch wesentlicher Bestandteil meiner Doktorarbeit.

Problematisch wird das Aufgleisen nur dann, wenn etwas schief geht und das Projekt entgleist. Auch das habe ich mittlerweile für mich im Sprachgebrauch übernommen: «Meine Durchführung des Seminars ist entgleist» – sage ich mittlerweile, egal ob mich jemand fragt oder nicht. Was ich bei allen Vorüberlegungen zu obigem Seminar nämlich nicht berücksichtigt hatte, war, dass sich meine VR-Anwendung noch im Beta-Stadium befand und zu unvorhersehbaren Fehlern neigte. Die gab es dann auch zuhauf – von kleinen, wegfliegende Hände der Avatare, bis hin zu potenziell kursgefährdenden wie eine zentrale Gruppenaufgabe, die sich nicht mehr laden liess.

Ein paar Jahre früher wäre ich wahrscheinlich in eine Schockstarre verfallen, und hätte das Seminar abbrechen müssen, weil es vermeintlich gescheitert und die Durchführung nicht mehr möglich gewesen war. Ersteres passiert mir natürlich auch jetzt. Doch statt des Abbruch-Gedankens schlich sich die erste Impro-Regel «Sag Ja!» in mein Bewusstsein. Das tat ich dann auch, wurde ungläubig von meinen Teilnehmer:innen angesehen und arbeitete zunächst aktiv mit meiner Schockstarre. Das erzeugte einige Lacher, die Situation entspannte sich, ich machte eine ausserplanmässige Pause von 15 Minuten und sondierte die Lage.

«Ja sagen» und die Situation akzeptieren, wie sie ist, ist dabei das eine. Etwas anderes ist es, die zweite Impro-Regel zu befolgen, nach der es den Spieler:innen egal sein muss, wie ihre Geschichte auf der Bühne endet. Ich hatte irgendwann mal eine Vorstellung gesehen, während der die Protagonist:innen stetig dümmer wurden. Das war lustig, ist aber keine Lösung in der Hochschullehre. Im Gegenteil, Dozierende haben ja gerade die Prozessverantwortung für die Lehrveranstaltung und müssen ihren Teil dazu beitragen, dass die Studierenden – in meinem Fall waren es Dozierende – die avisierten Lernziele erreichen, trotz Totalausfall der VR-Umgebung.

Dozierende sind vor dem Hintergrund der zweiten Regel daher keine Improspieler:innen. Sie müssen sich vielmehr in beiden Welten zuhause fühlen: im (idealerweise von der Theorie und Empirie informierten) normativem Wollen und im faktischen, problembehafteten Hier und Jetzt. Ich spreche in diesem Zusammenhang von der Gleiszeitigkeit von Vorstellung und Realität, in der sich Dozierende zurechtfinden müssen.

Für mich bedeutet diese Gleiszeitigkeit, nach bestem Wissen und Gewissen meine Veranstaltungen zu planen, sodass ich jede didaktische Entscheidung vor mir selbst und anderen vor dem Hintergrund lerntheoretischer und empirischer Erkenntnisse legitimieren kann. Gleiszeitigkeit bedeutet jedoch auch, dass ich mir dessen bewusst bin, dass ich meine Veranstaltung immer nur zur Hälfte vorbereiten kann – ein wertvoller Grundsatz, den ich von Hilbert Meyer übernommen habe. Die zweite Hälfte beginnt, sobald ich den Seminarraum betrete – was nun passiert, kann ich nicht planen, aber darauf reagieren. Das kann ich umso besser, je mehr es mir – erstens – gelingt, «Ja» zu sagen zu dem, was ist – und zweitens, meinen didaktischen Fahrplan nicht aus den Augen zu verlieren. Freilich gelingt das mal mehr, mal weniger gut – und dabei habe ich schon den Luxus, sowohl eine Impro- als auch eine Hochschuldidaktik-Ausbildung genossen zu haben. Wie so oft scheint es mir aber auch hier der Fall zu sein: Die Trasse ist das Ziel.

Improvisation heisst auch, mit dem zu arbeiten, was einem gerade in den Sinn kommt – und darauf zu vertrauen, dass man schon irgendwie die Kurve kriegen wird. Das ist nicht wirklich eine dritte Regel – mehr das konsequente Leben der beiden anderen. Als ich aufgefordert wurde, einen Blogbeitrag zum Thema zu schreiben, fiel mir zuerst das «Aufgleisen» ein. Nun, und das Ergebnis daraus hast Du gerade gelesen – vielleicht auch irgendwann mal meine Doktorarbeit, in der es dann die Auflösung gibt, ob ich die Veranstaltung noch zu einem erfolgreichen Abschluss bringen konnte. Ob mir hiermit auch der didaktische Doppeldecker aus Dozieren und gelebter Impro gelungen ist, musst indes Du beurteilen. Doch selbst wenn eine Impro entgleist: Am Ende kommt die Verbeugung, mal demütiger, mal selbstverliebter – je nach Moment: «Danke vielmal fürs läse.»

 

image railway track by TheDigitalArtist at pixabay.com

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