Ein improvisierter Stegreif-Aufsatz für einen unzeitgemässen Lehrer, der vor fünf Jahren das Zeitliche segnete (verfasst am 6. Mai 2015 von 12.44 Uhr bis 13.07 Uhr)
Gastbeitrag von Tom Gsteiger, Jazzgeschichte an der Hochschule Luzern und an der Jazzschule Basel
QUIZ
Der Name Toni Gerber dürfte in Kunstkreisen da und dort bekannt sein.
Er war Galerist in Bern, hat zeitgenössische Kunst gesammelt und dann an diverse Museuen hierzulande „verschenkt“. Aber Toni Gerber war auch Lehrer. Er war mein Lehrer für Geschichte und Deutsch an Untergymnasium in Bern – das liegt jetzt rund zwei Jahrzehnte zurück.
Er war damals unzeitgemäss und heute wäre er wohl untragbar als Lehrer. Er war kein Team-Player, sein Unterricht war oft chaotisch, manchmal auch stinklangweilig – etwa dann, wenn er die Kopien seiner von Hand geschriebenen Notizen zur Weltgeschichte verteilen liess.
Aber eben nicht immer. Toni Gerber hatte Charisma, er war ein kurioser Typ. Er hat uns in Museen geschleppt und in seine Galerie, die gleichzeitig seine Wohnung war, eingeladen. Er hat uns mit komischen Texten konfrontiert (von Barock bis Dada). Er hat bei einigen Schüler/- innen die Neugierde auf Kunst geweckt und wach gehalten. Und er hat grossen Wert auf Wissen gelegt – von Kompetenzen verstand er dagegen nicht so viel (oder vielleicht doch?). Manchmal bestand sein Unterricht aus einem unterhaltsamen Quiz mit Fragen zu Geschichte und Kunst. Und so hat Toni Gerber nicht nur mir die Türe zur faszinierenden Welt der Kunst weit geöffnet.
VÖGEL
Der grosse Jazzpianist Keith Jarrett sagt: «Musik kommt nicht von Musik. Babies kommen auch nicht von Babies.» Damit meint er wohl nicht zuletzt, dass ein Musiker Inspiration braucht. Diese Inspiration kann er sich in seinem Leben holen, aber auch in der Kunst, im Mystizismus, in der Religion, in der Natur … Jarrett hat mehrere seiner Stücke nach Gedichten von Rilke benannt. Was wäre Wayne Shorter ohne seine Liebe zu Science-Fiction? Von John Coltrane gibt es ein berühmtes Foto, das ihn im Guggenheim Museum in New York zeigt. Der polnische Trompeter Tomasz Stanko könnte ohne den Roman „Under the Volcano“
nicht leben, er muss immer wieder darin lesen. Was wäre Olivier Messiaen (oder Albert Mangelsdorff) ohne seine Liebe zum Vogelgesang?
BLOOM
Und nun der Link zur Gegenwart und zu unseren Kunst(stapler)hochschulen. Dort gehen Studierende ein und aus, die mehr über ihr Smartphone wissen, als über die Geschichte der Kunst (muss man ja auch nicht wissen, kann man ja googeln!). Zuweilen mache ich mir den „Spass“, das Kunst(un)wissen meiner Studis zu testen. Lady Gaga haben bisher noch alle gekannt, aber bisher konnte niemand etwas mit Leopold Bloom anfangen, immerhin der Hauptprotagonist in einem
Jahrhundertroman: „Ulysses“ von James Joyce. „Ulysses“? Joyce? Dann doch lieber DJ Bobo. Immerhin traf ich mal auf eine Studentin, die den Fussball-Experten Gilbert Gress nicht kannte. Nun mag man sagen: Das ist totes Wissen! Totes Wissen? Ich würde eher sagen: Ohne solches Wissen sind wir „tot“!
QUER
Und darum würde ich mir mehr Lehrer wie Toni Gerber wünschen.
Unzeitgemässe Eigenbrötler. Querköpfe. Mindestens zwei, drei Toni Gerbers sollte es pro Schule geben dürfen. Der Rest kann sich ja dann um die Vermittlung der 4000 Kompetenzen kümmern.