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Gruppe junger Leute sitzt diskutierend um einen Tisch

Lernen, ein kollektives Abenteuer

Wie findet Lernen statt? Welche Faktoren fördern und unterstützen effektives Lernen? Wie lassen sich Lernprozesse individualisierter gestalten und damit besser auf die Bedürfnisse aller Lerner:innen abstimmen? Dies sind nur einige der fundamentalen Fragen der Hochschuldidaktik. Dabei steht meist die einzelne Lerner:in im Zentrum der Aufmerksamkeit. Insbesondere die Lernpsychologie liefert durch ihre empirische Forschung zum Lernen differenzierte Antworten auf diese Fragen.

Es gibt jedoch noch eine weitere Dimension von Lernen die in dieser Fokussierung auf die individuelle Lerner:in und ihre Bedürfnisse und Ressourcen hier und da etwas in Vergessenheit zu geraten droht: die gesellschaftliche Dimension von Lernen. (Akademisch sozialisiert als Sozialanthropologe treibt mich vor allem dieser zweite Aspekt um.) Auch wenn die Arbeiten des Didaktikers Wolfgang Klafki immer wieder und zurecht als für den Lehralltag zu abstrakt kritisiert wurden, scheint mir doch ein Gedanke von ihm fundamental und von ungebrochener Aktualität zu sein: Bildungsfragen sind stets Gesellschaftsfragen. Die Art und Weise, wie wir Gesellschaft denken, so denken wir auch Lernen und Lehren. In der heutigen hochindividualisierten Gesellschaft ist es deshalb nicht weiter erstaunlich, dass auch Lernen in erster Linie als individuelles Unterfangen gedacht wird.

Gleichzeitig führt jedoch die aktuelle gesellschaftliche Situation – Stichwort Klimawandel, Pandemiebekämpfung oder globale Ungleichheit – drastisch vor Augen, dass es für viele Herausforderungen nur kollektive Lösungen geben kann (wenn überhaupt, wie die Pessimist:innen unter uns einwenden würden…).

Wie wir diese Herausforderungen als Gesellschaft lösen können, ist auch eine zentrale Frage im Bildungsbereich: Welche Kompetenzen werden unsere Student:innen dereinst brauchen, um die künftigen, teils bekannten und teils noch unbekannten gesellschaftlichen Herausforderungen  zu meistern? Das grosse Schlagwort dazu: die 21st Century Skills, also jene Kompetenzen, die in Zukunft gefragt sein werden, sich dem noch Unbekannten zu stellen.

Gehen wir also davon aus, dass grosse gesellschaftliche Herausforderungen auf uns als Gesellschaft zukommen und gehen wir weiter davon aus, dass sich diese – zumindest teilweise – nur kollektiv lösen lassen, dann stellt sich für die Hochschuldidaktik ganz konkret die Frage, wie wir unsere Student:innen befähigen, diese Herausforderungen anzugehen.

Das klingt reichlich abstrakt. Gewissermassen eine Ebene unter diesen theoretisch-konzeptionellen Überlegungen zur gesellschaftlichen Dimension von Lernen und Lehren gibt es einen weit konkreteren Punkt, der auf der didaktischen Ebene im engeren Sinn angesiedelt ist: Das Verständnis von Lernen als einem kollektiven Abenteuer und der Frage, welche Konsequenzen dies hat für die Gestaltung von Lernarrangements.

 

1. Communities of Practice

Die US-amerikanische Kulturanthropologin Jean Lave stellte einmal fest, dass die sozialwissenschaftliche Perspektive auf Lehren und Lernen zwar das Lehren durchaus in den Blick der Forschung nimmt, den Aspekt des Lernens jedoch oft übersieht und einseitig der Psychologie überantwortet. In ihrer langjährigen ethnografischen Forschung über Schneiderlehrlinge in Liberia  hat sie Lernen als sozialen Prozess zu verstehen versucht (vgl. Lave 1982; 2011). Dabei hat sie zwei wesentliche Erkenntnisse festgehalten, die für die Hochschuldidaktik als Denkanstösse dienen können: Sie kritisiert erstens die weitverbreitete Dichotomie zwischen formalem, an Bildungsinstitutionen stattfindendem Lernen und dem informellen Lernen jenseits von Bildungseinrichtungen. Am Beispiel des Erlernens des Schneiderhandwerks in Liberia konnte sie zeigen, dass es in Liberia – wenig erstaunlich – weder formalisierte Curricula noch Berufsschulen oder ähnliches gibt, die Ausbildung zum Schneider (sie waren ausschliesslich männlich) – und das wiederum ist bemerkenswert – dennoch ausgesprochen strukturiert und systematisch abläuft. Faktoren für diese Strukturierung sind einerseits im Sozialen zu suchen, andererseits sind sie materiell bedingt. Sie argumentiert, dass es beim Lernen nie nur um den blossen individuelle Kompetenzerwerb geht, sondern dass Lernen ebenso sehr eine Sozialisierung in eine Berufsgruppe hinein bedeutet. Und in dieser Hinsicht unterscheidet sich die Ausbildung der Schneider in Liberia nicht von der Ausbildung der Architekt:innen an der HSLU.

Ausgehend von diesen Überlegungen hat Lave zusammen mit Étienne Wenger das Konzept der Communities of Practice entwickelt. Étienne Wenger, ursprünglich Computerwissenschaftler aus Neuchâtel, hat bei Lave promoviert mit einer ethnografischen Arbeit zu einem Schadenbearbeitungszentrums in einer grossen Versicherungsfirma. Im Verständnis von Lave und Wenger bezeichnet Communities of Practice «an ongoing learning partnership, which over time has resulted in a shared practice and a regime of competence» (Wenger und Wenger-Trayner 2020, 31). Es geht also darum, dass sich über gemeinsames Lernen und gemeinsame Praxis kollektives Wissen formt und verfestigt.

 

2. Social Learning Spaces

Später ist Étienne Wenger noch einen Schritt weiter gegangen und hat kollektives bzw. soziales Lernen weiter ausdifferenziert. Dem Begriff der Communities of Practice zur Seite gestellt, erlaubt das Konzept der Social Learning Spaces die Unterscheidung von zwei verschiedenen Formen von kollektivem Lernen. Social Learning Spaces unterscheiden sich von Communities of Practices darin, dass eine Gruppe von Lerner:innen erstens gemeinsam etwas Bewegen und Verändern will – «[…] make a difference they care to make» (Wenger und Wenger-Trayner 2020, 15). Zweitens ist für Social Learning Spaces charakteristisch, dass sich die Teilnehmer:innen gemeinsam in unbekanntes Terrain vorwagen – «Participants engage with each other at the leading edge of their knowing to make that difference» (Wenger und Wenger-Trayner 2020, 15). Schliesslich zeichnen sich Social Learning Spaces durch ihr forschend-iteratives Vorgehen und eine fragende Grundhaltung aus – «[…] participants pay close attention to wathever response comes back» (Wenger und Wenger-Trayner 2020, 15).

 

3. Gemeinsam Lernen um einen Unterschied zu machen

Kurz: Während bei Communities of Practice die – meist professionelle – Sozialisierung im Zentrum steht, so ist es im Fall von Social Learning Spaces die Idee, gemeinsam eine – meist gesellschaftliche – Veränderung zu bewirken. Beide Arten von Lernen als einem kollektiven Prozess widerspiegeln Facetten des Bildungsauftrags von Fachhochschulen.

Im Fall der Communities of Practice ist dies naheliegend: Bildung an Fachhochschulen hat unter anderem den Auftrag, die Student:innen in ein künftiges Berufsfeld hinein zu sozialisieren. Die Hochschule – gerade im Präsenzunterricht – bietet dabei einen Raum, um Netzwerke zu knüpfen für den zukünftigen Berufsalltag: Denn die aktuellen Mit-Student:innen sind nichts anderes als die künftigen Berufskolleg:innen.

Im Fall der Social Learning Spaces mag die Parallele etwas weniger offensichtlich sein. Doch mit Blick auf die anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen und die 21st Century Skills lässt sich sagen, dass Social Learning Spaces als kollektive Form des Lernens und der damit verbundenen Intention, gemeinsam Grenzen zu verschieben, eine der möglichen Antworten sein können auf einen gesellschaftlichen Auftrag der Hochschule: Studienabgänger:innen zu befähigen, mit Hilfe der erworbenen Kompetenzen als verantwortungsvolle Mitglieder der Gesellschaft gemeinsam die gesellschaftlichen Herausforderungen anzugehen und so einen Unterschied zu machen.

 

Bibliografie

Lave, Jean. 1982. «A Comparative Approach to Educational Forms and Learning Processes». Anthropology & Education Quarterly 13 (2): 181–87. https://doi.org/10/cgtq9r.

———. 2011. Apprenticeship in Critical Ethnographic Practice. The Lewis Henry Morgan Lectures 1993. Chicago: University of Chicago Press.

Wenger, Étienne, und Beverly Wenger-Trayner. 2020. Learning to Make a Difference: Value Creation in Social Learning Spaces. 1. Aufl. Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/9781108677431.

 

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