Bildung ist eine Frage der Organisation. Gute Bildung ist bislang vor allem gut organisierte Bildung. Sie ist eine Frage der Zuständigkeiten, der geregelten Abläufe, der Anträge und Budgets, der qualifizierten und kontrollierten Inhalte, und der Zertifizierung: von Studiengängen, Prüfungen und lehrenden Berufen. Wo sind da die Spielräume? Wie können die radikalen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entwicklungen der Gegenwart in Bildung umschlagen, wenn diese vor allem am Selbsterhalt ihrer Organisation interessiert ist?
Diese Fragen kommen fast zu gross daher, um bei einem Bier die Köpfe zusammen zu stecken und zu diskutieren, welche Keimkraft im Bildungssystem eigentlich noch steckt. Christof Arn, Leiter des Zentrums für Lernen und Lehren (ZLL) bereitet jedoch mit genau solchen kleinzelligen und subversiven Gelegenheiten den Boden für ein Netzwerk von kompetent Begeisterten und begeistert Kompetenten: Zusammenhocken, sich von echten Fragen irritieren lassen, ins Gespräch kommen mit Experten, die ihre Segel längst gesetzt haben. Konkurrenzlos und ohne Ergebnisdruck (auf) alternative Formen guter Bildung anstossen. Das ist Bildungsbier. Ein Stammtisch ohne Floskeln und ohne einfache, über den Tisch gebrüllte Lösungen. Eher eine Menge Nachdenklichkeit und das Verlangen nach Ideen, Mitstreiterinnen und Weggenossen.
Wie funktioniert ein Bildungsbier?
Gut. Es Funktioniert gut, wie im Video zu sehen ist. Die Gäste besorgen sich etwas zu trinken, vermischen sich und stimmen sich bei Livemusik von Silke Strahl (Saxophon) und Raphael Loher (Keys) aufs Thema ein. Christof Arn kommt bei seiner Begrüssung schnell auf den Punkt: Dass er ausgerechnet mit einem organisationskritischen Thema von diesem Ausmass bei seiner Hochschule offene Türen einrennt, macht ihm Mut und motiviert ihn zu solchen Anlässen. Zugleich gelingt ihm mit diesem Format der Spagat: Es gibt beim Bildungsbier gerade keine Keynotes und Podiumsdiskussionen. Es ist kein verkleideter Bildungsanlass oder Didaktikgottesdienst. Stattdessen stellt Arn (allen) seinen Gästen jene Fragen, die ihn persönlich umtreiben, und die Zündstoff enthalten, wie in den Antworten hörbar wird.
Franz Röösli, Leiter des Zentrums für Unternehmensentwicklung an der ZHAW stellt fest, es habe in den vergangenen zwei, drei Jahren einen wahren Schub gegeben in Richtung eines radikalen Überdenkens klassischer Führungs- und Organisationskonzepte: Weg von „command and control“, hin zu mehr Selbstorganisation – und er hofft darauf, dass der „tipping point“ (Umschlagspunkt) schnell erreicht wird. Im Weg stünde dem bisher vor allem die Angst von Führungskräften vor ihrer eigenen Courage. Erste Schritte sieht er deshalb in einer flachen Netzwerkarbeit, weil sich dadurch Hierarchien von selbst abbauen. Hier ein Link zur kompletten Antwort im Interview.
Systeme brauchen Zeit um in andere Richtungen weiter zu wachsen
Markus Buholzer ist Rektor der Volksschule Kriens und weiss zu berichten, dass der Umbau hierarchischer Kulturen Zeit und Geduld erfordert – und dass er vom Erfolg der kleinen Schritte lebt. Vereinfachung mache Angst, ein Zuwachs an Freiheiten löse Verunsicherung aus. Denn vieles von dem, was traditionelle Strukturen an Regelung anbieten und einfordern, soll ja das Handeln in komplexen Systemen kontrollierbar machen.
Dementsprechend ist „Kontrollverlust“ eine Urangst hierarchischer Systeme – und das Bildungssystem steht da in der Hitliste ganz oben – da sind sich die Gäste übrigens einig. An ganz konkreten Beispielen erläutert Buholzer, wie die Entwöhnung vom Hierarchischen sich entwickelt, und wie sich in den frei werdenden Gestaltungsspielräumen die Kreativität der Beteiligten entfalten kann. Wie bereits Röösli sieht auch Buholzer vor allem die (strukturelle wie personelle) Führung in der Verantwortung, wenn es um eine Veränderung der Rahmenbedingungen für keimende Bildungskräfte geht.
Nicht alles wissen wollen und auf die Keimkräfte im Team vertrauen
Wie Führung als Dienstleistung „lateral“ oder „horizontal“ funktionieren kann, davon erzählt Stephanie Kaudela-Baum vom Kompetenzzentrum General Management der Hochschule Luzern. Sie geht vor allem auf die Frage ein, wie Führungskräfte ganz konkret ihre Rollen neu gestalten können, wie sie Vertrauen entwickeln in die Kräfte der Selbstorganisation, die in kompetenten Teams wirksam werden, wenn sie denn dürfen. Der professionelle Umgang mit VUCA scheint in der Tat eine grosse Herausforderung für die Führungskraft der Zukunft zu sein. Für sie persönlich beginnt der erste und entlastende Schritt damit, dass ich als Führungskraft nicht über alle Vorgänge Bescheid wissen muss, und dass die Auseinandersetzung mit dem eigenen Kontrollbedürfnis ein guter Einstieg in horizontale Führung ist.
Keimen bedeutet auch Metaphern zu bilden & Metamorphosen zu durchlaufen
Besonders beeindruckend: Die Übersetzung der Fragen, Diskussionen, Antworten und Gegenfragen in Töne. Das Auffangen und Übertragen der Stimmungen in Musik durch Saxophon & Keys. Zufällig zugeworfene Stichworte aus dem Kreis der Gäste finden alternative Wege in die Ohren, Köpfe und Bäuche der Anwesenden. Denn nicht Abrunden ist beim dritten Bildungsbier gefragt, sondern Aufbrechen. Freisetzen von Energie und Zukunft, gerade so wie beim nicht zufällig gewählten Bild des Keimens. Der Flaschengeist wird nicht nur im orientalischen Märchen erst durch Reibung aktiv. Offenbar geht Entwicklung auch dort, wo sie Menschen und ihre Organisationen befällt, mit dem Auf- und Ausbruch aus alten und eng gewordenen Gefässen einher. Mit dem Verlassen des Gewohnten und Heimeligen. Ein alter Hut ist das – und doch kommen wir um diese Erfahrung der „Labilisierung“ nicht herum, wenn es um einen Wandel der Rahmenbedingungen in der Bildungswelt geht.
Und was kommt jetzt?
Das nächste Bildungsbier wird das vierte sein: Bildungsbier 4.0 quasi. Es geht dann um die äusserst spannende Frage, ob und inwiefern Kunst überhaupt lernbar ist. Nicht nur in der Musik und im Design – sondern eben auch im Lernen und Lehren. Mehr dazu finden Sie hier:
Text & Videos: Christoph Schmitt
Fotos: Silas Arn