Was macht «Präsenz» in der Hochschullehre aus – und inwiefern ist das, was diese Präsenz ausmacht, auch ohne eine leibliche Anwesenheit der Lehrenden und Lernenden an einem gemeinsamen Ort, ohne physische Ko-Präsenz möglich? Marija Stanisavljevic und Peter Tremp vom Zentrum für Hochschuldidaktik der Pädagogischen Hochschule Luzern sind dieser Frage auf den Grund gegangen und haben dazu Antworten von 30 Personen aus verschiedenen Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz gesammelt. Die Antworten liegen nun pünktlich zum Beginn des Jahres 2 n. C. als Publikation vor. Die 30 Gewährspersonen beleuchten das Phänomen «(Digitale) Präsenz» in jeweils kurzen Texten aus ihren jeweils spezifischen Fachperspektiven, die von Sprach- und Erziehungswissenschaften über Soziologie und Philosophie bis zur Kunstgeschichte reichen.
Stanisavljevic und Tremp rahmen die Beiträge mit einem Blick auf Ulrich Oevermanns Überlegungen zum komplementären Verhältnis von Krise und Routine: Erst die Krise, die das Vertraute paralysiert, schärft den Blick auf bewährte Routinen, und die Krisenbewältigung, die ein vorsichtiges Herantasten an eine neue Realität mit sich bringt, offenbart den Kern des Altbewährten. Die Beiträge des Sammelbandes veranschaulichen Oevermanns Konzept eindrücklich: Ohne die Erfahrungen des Fernunterrichts im letzten Jahr erschienen viele der Beiträge zwar einleuchtend, aber irrelevant. Ihre Sinnhaftigkeit erfahren sie erst durch die Möglichkeit, Hochschulunterricht auch in Europa als Fernunterricht zu denken.
Die Beiträge kreisen im Wesentlichen um sechs Aspekte, die «Präsenz» im Hochschulunterricht auszeichnen. Es geht um Interaktionsroutinen wie etwa Gestik, Mimik und Blicke, um Raum und Rituale, die eng mit dem Raum verbunden sind: So sind auch scheinbar nebensächliche Tätigkeiten wie der Weg zur Mensa, die Suche nach dem richtigen Hörsaal oder das laute Stühle-Rücken im grossen Seminarraum konstitutive Elemente dessen, was Studierende als «Studium» wahrnehmen und was ihnen – zumindest in dieser Form – im rein digitalen Unterricht fehlt. Unterschiedliche Vermittlungs- und Verbreitungsmedien und damit verbunden die Frage, wie sich Lehrende und Lernende selbst darstellen, werden genauso aufgegriffen wie die Frage nach dem Studium als Lebens- und Sozialisationsphase: Wie gestalten sich diese entscheidenden Funktionen eines Studiums auch im Digitalen, wenn das physische Beisammensein im Unterricht und der informelle Austausch auf dem Flur wegfallen? Fragen der Unterrichtsmethodik und ganz generell die Frage, wie sich das Bildungssystem durch Digitalisierung verändert, sind ebenfalls Ausgangspunkte einzelner Autorinnen und Autoren.
Die Beiträge bieten aufschlussreiche, theoretisch fundierte und inspirierende Blicke auf – so der Untertitel der Publikation – «das soziale Phänomen Lehre». Sie eignen sich gut als Lektüre zwischendurch und sind damit ideal für den digitalen Nachttisch, der sich ja – Digitalisierung sei Dank – neuerdings auch in die S-Bahn, die Warteschlange vor dem Testzentrum oder (verbotenerweise) sogar ins digitale Sitzungszimmer mitnehmen lässt. Die Publikation ist damit in jeder Hinsicht das richtige Buch zur richtigen Zeit.
Stanisavljevic, Marija & Tremp, Peter (2020). (Digitale) Präsenz – Ein Rundumblick auf das soziale Phänomen Lehre. Luzern: Pädagogische Hochschule Luzern, Zentrum für Hochschuldidaktik.
https://doi.org/10.5281/ZENODO.4291793
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