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Graffiti verschiedene Ethnien

Nachteilsausgleich: ein Thema der Hochschulentwicklung 

In der heutigen Gesellschaft soll und muss man von Diversität ausgehen: Ob Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, soziale Herkunft, Alter, physische und psychische Einschränkungen, sexuelle Orientierung, Religion oder Lebensstil – menschliche Vielfalt zeigt sich in vielen Facetten. Diese Vielfalt spiegelt sich selbstverständlich auch in der Hochschulwelt wider. Verschiedene Personengruppen, die ursprünglich nicht als typische Hochschulabsolvent:innen gedacht waren, sitzen heute – zu Recht – in den Hörsälen und ihre Präsenz wird inzwischen ganz selbstverständlich wahrgenommen. Wie etwa Frauen, die an einzelnen Schweizer Universitäten erst ab 1860 zum Studium zugelassen wurden. 

Eine dieser Gruppen sind Meschen mit physischen oder psychischen Beeinträchtigungen, deren Teilnahme an tertiären Bildungsangeboten gesetzlich gesichert wird. Hintergrund der gesetzlichen Grundlagen wie UN-Behindertenrechtskonvention UN-BRK, Bundesverfassung, Art. 8 und Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen BehiG ist ein relationales Verständnis von Behinderung: eine Person ist nicht per se behindert, sie wird von hemmenden situativen Umweltfaktoren behindert und diese müssen, wenn sie das Studium betreffen, durch die Hochschulen mit Nachteilsausgleichen beseitigt werden, damit die Behinderung nicht zu einer Benachteiligung dieser Personen führt. Gemäss einer Erhebung des Bundesamtes für Statistik aus dem Jahr 2018 leiden 18% aller Studierenden in der Schweiz unter dauerhaften Gesundheitsproblemen: es geht deshalb um keine vernachlässigbare Gruppe.  

Das Thema Nachteilsausgleich lässt sich kritisch aus verschiedenen Perspektiven diskutieren: man kann es zum Beispiel von der Seite der betroffenen Personen anschauen, die ihre nicht immer sichtbare Einschränkung outen müssen und die Kosten eines relativ teuren ärztlichen Zeugnisses selber tragen müssen, um einen Nachteilsausgleich zu bekommen. Man kann aber auch die Sicht der Institution einnehmen, die einen organisatorischen und personellen Mehraufwand für die Umsetzung der jeweiligen Massnahme hat. Und schliesslich ist eine dritte Perspektive diejenige der Dozierenden und der Studierenden, die nicht immer genug sensibilisiert gegenüber dem Thema sind. Genau aufgrund dieser verschiedenen Perspektiven bleibt das Thema ein echtes Hochschulentwicklungsthema: Was bedeutet diese Erweiterung des Zielpublikums für die Hochschulen und die Hochschulangehörige und wie kommen sie – heute und zukünftig – der Vision und dem damit verbundenen Auftrag der Gesetze nach?  

Durch Nachteilsausgleiche Barrieren abbauen 

Zunächst ein Schritt zurück: Was sind Nachteilsausgleiche, wie werden sie vereinbart und umgesetzt und auf welcher Ebene agieren sie? Gemäss swissuniversities beinhalten Nachteilsausgleiche eine Anpassung der Studien- und/oder Prüfungsbedingungen mit dem Zweck, behinderungsbedingte Benachteiligungen in der Aus- und Weiterbildung zu kompensieren. Sie können in diesem Sinne bauliche, didaktische, technische oder organisatorische Anpassungen des Unterrichts oder der Prüfungen umfassen und sind individuell auf die Bedürfnisse der betroffenen Personen abzustimmen. Sie agieren auf der Ebene der formalen Rahmenbedingungen und sollen keinen Einfluss auf Lerninhalte und -ziele haben. Beispiele sind etwa die Verlängerung von Prüfungszeiten, die Bereitstellung barrierefreier Lernmaterialien oder die Nutzung technischer Hilfsmittel wie Screenreader oder Spracherkennungssoftware. Ein Nachteilsausgleich muss proaktiv und frühzeitig von Betroffenen beantragt und durch ein ärztliches Zeugnis belegt werden, welches die studienrelevanten Schwierigkeiten beschreibt. Eine wichtige Schnittstellefunktion übernehmen spezifische Beratungsstellen an Hochschulen, etwa die Kontaktstelle «barrierefrei» an der HSLU, die Informationen, Beratung und individuelle Abklärungen für Studieninteressierte und Studierende mit einer Beeinträchtigung sowie für weiteren Anspruchsgruppen bieten. 

Proaktiv von Diversität ausgehen 

Nachteilsausgleiche generieren zusätzliche Arbeit für die Studierenden, die den ganzen Antragsstellungsprozess im Blick haben müssen, und für die Lehrenden, die bereits bestimmte Rahmenbedingungen für Lehrveranstaltungen und Prüfungen für einzelne Personen anpassen müssen. Man kann erwarten, dass die Anzahl an Personen, die sich trotz einer Beeinträchtigung aus- und weiterbilden wollen, steigen wird, sowie auch die Anzahl derjenigen, die die «Norm» einer/eines typischen Student:in nicht entsprechen, sei es, weil sie Betreuungspflichte haben, erwerbstätig sind oder einen anderen sprachlichen Hintergrund mitbringen. Es ist deshalb wichtig, die Diversität der Studierenden bereits in der Konzeption der Studiengänge mitzudenken. Hochschulen können dann durch strukturelle Massnahmen den verschiedenen Bedürfnissen entgegenkommen, z.B. mit barrierefrei gestalteten Dokumenten. Müssen Lehrunterlagen nachträglich überarbeitet werden, um barrierefrei zu werden, entsteht ein zusätzlicher Aufwand. Gestaltet man sie jedoch von Anfang an so, profitieren alle und der Mehraufwand entfällt.  

So könnte ein mögliches Zukunftsszenario hierfür das Konzept des Universal Design sein. Wie eine Schere, die sowohl von Rechts- als auch von Linkshänder:innen problemlos genutzt werden kann, ermöglichen die Prinzipien des Universal Design for Learning (UDL) eine barrierearme Teilhabe möglichst vieler Studierender an Lehrveranstaltungen. Durch Massnahmen wie das Formulieren klarer Ziele und Absichten, die Verwendung verständlicher Sprache, die Bereitstellung unterschiedlicher (medialer) Darstellungsformen von Informationen sowie das Anbieten alternativer Möglichkeiten zum Nachweis der Lernzielerreichung wird eine inklusivere Lernumgebung geschaffen. Das Universal Design for Learning ist ein Prozess, der sich nicht einfach spontan umsetzten lässt, sondern ein Überdenken von Standards, Routinen und Strukturen erfordert. 

Nachteilsausgleich als Hochschulentwicklungsthema 

Historisch gesehen sind Hochschulen Institutionen, die eine Elite ansprechen. Bildung hat sich jedoch ständig demokratisiert, und immer mehr Personen mit diversen Hintergründen und Bedürfnissen wollen ein Studium in Anspruch nehmen. Es ist dann eine Identitätsfrage der einzelnen Hochschulen zu definieren, wie offen sie sein wollen, was sie bereit sind, umzugestalten, um an Attraktivität zu gewinnen, und was hingegen unverändert bleiben soll. Genau aufgrund ihrer Auswirkungen bieten Nachteilsausgleiche den Hochschulen und den einzelnen Lehrenden die Möglichkeit, zu unterscheiden, welche Inhalte und Kompetenzen in der jeweiligen Aus- und Weiterbildung zwingend vermittelt und geprüft werden müssten – und somit nicht verhandelbar sind – und welche Aspekte hingegen die Studien- und Prüfungsbedingungen oder gar nur etablierte Routinen betreffen, die für eine bessere Inklusion angepasst werden können. So können Nachteilsausgleiche in jeder Hinsicht als Lernfelder gelten, wenn sie reflektiert und mit einem systemischen Blick umgesetzt werden. Neben der Bereitschaft der Institutionen und der einzelnen Lehrenden, sich selbst zu hinterfragen, braucht es natürlich auch Ressourcen auf konzeptioneller und operativer Ebene, um eine Umgestaltung vorzunehmen. Gelingt das aber, ist das ein Gewinn für alle betroffenen Personen – Studierende, Lehrende und andere Hochschulangehörige – sowie auch für die Institution selbst.  

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