Familiendynamische Konzepte: Wege zum besseren Verständnis der eigenen Familie

Im Forschungsbericht ‘Erfolgreiches Führen im Familienteam’ (erhältlich ab 8.2.2019) thematisieren wir u.a. die Bedeutung familiendynamischer Beziehungs- und Verhaltensmuster, die die Zusammenarbeit mit Familienmitgliedern entscheidend prägen. Dieser Artikel ist eine Vertiefung der im Forschungsbericht nur kurz erwähnten Konzepte der Familiendynamik, welche für Unternehmerfamilien bedeutsam sein können.

Als Familiendynamik bezeichnen wir generell die Beziehungs- und Verhaltensmuster, die das emotionale Leben der Familie definieren. Denn Charakter und Verhalten eines Menschen werden entscheidend von der Familie geprägt: so bestimmen gelebte Normen und Werte die Perspektive zu Risiko, Überleben, Strategien, Prozesse und Strukturen, sowie zu gefühltem Erfolg (Aldrich und Cliff, 2003). Zahlreiche weitere Faktoren haben Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung, so beispielsweise die Familienstruktur (Position innerhalb der Familie, Anzahl Geschwister, Rollen der Familienmitglieder), familiäre Stabilität oder elterliche Konflikte (Hain, 2008).

Die für das Familiensystem prägendsten Muster entspringen meist sogenannten Stressoren – das kann eine Hochzeit sein oder auch eine Scheidung, der Tod eines geliebten Familienmitglieds, oder ein bevorstehender Generationenwechsel. Diese Stressoren können Konflikte im Familienverbund zum Ausbruch bringen – und die damit verbundenen negativen Gefühle können Generationen im Familiensystem überdauern, sofern sie nicht bewusst thematisiert werden. Familiendynamische Probleme und Konflikte sind im Familienunternehmen oftmals die Gründe für «klassische» Business-Probleme wie Konflikte im Kontext der Beschäftigungs-, Entschädigungs- oder Dividendenpolitik.

Sobald die Beteiligten die familiendynamischen Prozesse verstehen und man sich bemüht, das zugrundeliegende (familiäre) Problem beizulegen, bessern sich die Herausforderungen auf Unternehmensseite vielfach rasant. Aus der Forschung kennen wir verschiedene Grundsätze der Familiendynamik, die für Unternehmerfamilien bedeutsam sind, wie beispielsweise die Geburtsreihenfolge, Geschwisterrivalität, oder das Konzept der Lebensphasen.

Die Geschwisterforschung liefert spannende Hinweise darauf, inwiefern die Geburtsreihenfolge gewisse Charakterzüge von Geschwistern beeinflussen kann. So wurden die folgenden typischen Eigenschaften von Erstgeborenen, Zweitgeborenen (oder Mittelkindern), und Dritt-, respektive Letztgeborenen identifiziert (Schmelz, 2015):

  • Erstgeborene: Willensstark und verantwortungsbewusst; leistungsorientiert und gewissenhaft; unzufrieden mit der eigenen Person, Perfektionismus; konfliktavers.
  • Zweitgeborene: Kontaktfreudig; Konfliktschlichter; können ihre Ziele gut durchsetzen; sind spontan, gelassen, und geduldig; bei (empfundener) fehlender Aufmerksamkeit entwickeln sie ein schwaches Selbstwertgefühl und fallen negativ auf.
  • Drittgeborene: Unbekümmert, unterhaltsam, flexibel und unkompliziert; fühlen sich oft nicht verantwortlich, sind passiv, hilfsbedürftig, selbstbezogen, unordentlich.

Die Geschwisterbeziehung ist eine der prägendsten und längsten Beziehungen im Lebenslauf einer Person (Bank & Kahn, 1997) und widerspiegelt oft die Paarbeziehung der Eltern. Die Forschung belegt, dass das erstgeborene Kind überdurchschnittlich oft eine stärkere Bindung zum emotional dominanten Elternteil entwickelt, das zweitgeborene hingegen zum emotional submissiven Elternteil. Der emotional dominante Elternteil ist nicht zwingend diejenige, die ihren Gefühlen am lautesten Ausdruck verleiht, sondern vielmehr derjenige, der in der Regel seine eigenen Bedürfnisse durchsetzen kann, weil die Partnerin ihm den Vorzug lässt. Dieses dominant-submissive Muster beeinflusst sämtliche Beziehungen in einer Kernfamilie. Denn wenn die Eltern einen Konflikt austragen, schlagen sich die Kinder automatisch auf die Seite desjenigen Elternteils, zu dem sie die stärkere Bindung haben – dies führt dazu, dass der Konflikt nicht nur auf Ebene der Eltern ausgetragen wird, sondern eben auch auf Ebene der Kinder. So wirken sich Konflikte zwischen den Eltern direkt auf die Kinder aus – oftmals bis ins Erwachsenenalter, was zu tiefen Brüchen in der Geschwisterbeziehung führen kann.

Geschwisterliche Rivalität ist eine weitere Herausforderung, die gerade in Unternehmerfamilien zu negativen Dynamiken führen kann. Rivalität entsteht dann, wenn Geschwister um die Anerkennung der Eltern buhlen (müssen). Besonders wenn Eltern den Kindern das Gefühl vermitteln, das Leistung eine Voraussetzung für Liebe ist, beginnen die Kinder den karrieretechnischen Erfolg im eigenen Unternehmen als Mechanismus für die Anerkennung der Eltern zu sehen (Gersick, 1997). Rivalisierende Geschwister vergleichen sich laufend und versuchen gar, die anderen Geschwister in den Augen der Eltern schlecht zu machen, um die eigene Beziehung zu den Eltern zu stärken. Auch hier spielt die Geburtsreihenfolge eine Rolle, denn erstgeborene Kinder erleben vieles anders als ihre später geborenen Geschwister. Bei Erstgeborenen reagieren die Eltern auf vieles mit Begeisterung («Er läuft! Sie spricht!») – die darauffolgende Ausschüttung von Serotonin (dem Glückshormon) führt beim Erstgeborenen dazu, dass sich dessen Gehirn im Zeitverlauf an diesen neuro-chemischen Prozess gewöhnt. Wenn die Zustimmung ausbleibt, führt die Absenz des Serotoninausstosses von Unsicherheit bis hin zur Aggression – und die Kinder werden alles tun, um mehr positive Aufmerksamkeit zu erhalten. Später geborene Kinder verstehen dieses Verhalten nicht, was oftmals zu Streit um die Aufmerksamkeit der Eltern führt. Ein einfaches Mittel um eine positive Beziehung zum Erstgeborenen aufzubauen ist, selbst zu derjenigen Person zu werden, die Zustimmung und Aufmerksamkeit gibt. Das Erstgeborene wird sich automatisch diesen positiven Signalen zuwenden, wodurch eine positive Beziehung aktiv gestaltet werden kann. Dem Letztgeborenen kommt wiederum eine spezielle Rolle zu – für das «Nesthäkchen» gilt in der Regel, dass es gern umsorgt wird; es will hören, dass für sie oder ihn gesorgt wird, egal, was kommt. Das Bewusstsein, wie solche Dynamiken die Beziehung zwischen Geschwistern beeinflussen, gewinnt an Bedeutung, wenn die Führungsverantwortung im Unternehmen gemeinsam übernommen wird. Zu wissen, welche Mechanismen– aufgrund deren emotionalen Bedürfnisse – positiv wirken, kann helfen, die Beziehungen untereinander bewusst zu gestalten, zu stärken und Konflikte besser zu bewältigen.

Das Konzept der Lebensphasen schliesslich ist eine weitere hilfreiche Perspektive zur Analyse der Eltern-Kind-Beziehung.  Ein oft unterschätzter Aspekt in dieser Beziehung ist nämlich, in welcher Phase sich die Beteiligten in ihrem Lebenszyklus befinden. Die untenstehende Tabelle illustriert die verschiedenen Phasen der Persönlichkeitsentwicklung:

Phase Altersabschnitt Psychosoziale Entwicklung
Frühes Erwachsenenalter 20 – 45 Jahre Identitätsentwicklung & Eigenständigkeit

  • Separation von der Familie
  • Erkundung verschiedener Berufswege und Lebensstile; erste Weichenstellungen
  • Aufbau der ersten Lebensstruktur (Heirat, Familie)
  • Erste Überprüfung des Lebens: Revision früherer Entscheidungen und Vornahme nötiger Änderungen
  • Schaffung einer zweiten, stabileren Lebensstruktur (starkes berufliches Engagement und Aufstieg)
  • Lernen
Mittleres Erwachsenenalter 40 – 65 Jahre Bedeutungsaufbau & Reflexion

  • Zweite Überprüfung des eigenen Lebens (bisher Erreichtes, notwendige Veränderungen)
  • Entwicklung hin zur eigenständigen Person; Verlangen nach Unabhängigkeit und Autorität
  • Mehr Verantwortung und Last tragen, auch für die nächste Generation; Kontrolle abgeben
  • Wachsen
Spätes Erwachsenenalter Ab 60 Jahren Bedeutungserhalt & Konsolidierung

  • Abschied von der beruflichen Rolle, Konzentration auf die private Sphäre
  • Akzeptanz der Vergangenheit und Gegenwart
  • Bewahren der eigenen Bedeutung
  • Weitergeben

Tabelle: Stufenmodell der Entwicklung im Erwachsenenalter (in Anlehnung an Erikson, 1987; Levinson, 1978; Vaillant, 2008 )

Erikson (1987), Levinson (1978) und Vaillant (2008) identifizierten bereits ab 1950 verschiedene Phasen der Persönlichkeitsentwicklung, die ein Mensch im Verlauf seines Lebens durchläuft; jede Phase baut auf dem erfolgreichen Abschluss der vorherigen Phase auf. Wenn wir vor dem Hintergrund gemeinsamen – oftmals generationenübergreifenden – Führung einen Blick auf die Tabelle werfen, dann sehen wir, dass Menschen im späteren Erwachsenenalter (ab 60 Jahren) das Bedürfnis haben, die eigene Bedeutung zu bewahren. Wenn sich die Seniorgeneration im Nachfolgeprozess oder in der neuen Führungsaufteilung nicht gehört oder geschätzt fühlt kann zu gravierenden Konflikten in der Übergabe führen, wenn. Dieser Ansatz mag erklären, weshalb späte Nachfolgeregelungen (SeniorIn > 65, JuniorIn > 40) vielfach von massiven Konflikten gestört werden: Der Sohn / die Tochter hört, er / sie sei nicht kompetent, der Vater / die Mutter hört, er / sie werde (nicht) mehr gebraucht. Ein gutes Verständnis der jeweiligen Lebensphase, in welcher sich die an einem Prozess Beteiligten befinden kann helfen, ein den jeweiligen Bedürfnissen angepasstes Modell gemeinsamer Führung zu entwickeln. Es hilft dabei, die Führungsaufgabe auch über Personen in unterschiedlichen Lebensphasen hinaus erfolgreich zu verteilen und mögliche Konflikte zu vermeiden.

Die kurz dargestellten familiendynamischen Konzepte sind nur eine kleine Auswahl an Mechanismen, die das Verhalten von Familienmitgliedern untereinander entscheidend prägen können. Ein besseres Verständnis der eigenen Familiendynamik kann die Zusammenarbeit im Familienverbund entscheidend vereinfachen.

REFLEXION FAMILIENDYNAMIK

Die familiendynamische Forschung ermöglicht es sich unterschiedliche Beziehungskonfigurationen im eigenen Familiensystem vor Augen zu führen und dadurch die geteilte Führungsverantwortung achtsamer zu gestalten. Folgende Fragen können helfen, die eigene Situation besser zu verstehen:

  1. Zu welchem Elternteil habe ich eine engere Bindung? Inwiefern beeinflusst diese Bindung meine Beziehung zu meinen Geschwistern und anderen Familienmitgliedern, und mein Verhalten während Konflikten?
  2. Haben uns unsere Eltern eher kompetitiv, oder eher kollaborativ erzogen? Inwiefern beeinflusst dies heute unser ‘Miteinander’ als Geschwister?
  3. Wie erziehen wir unsere eigenen Kinder? Ermutigen und belohnen wir Zusammenarbeit oder Einzelleistung?
  4. Wie beeinflussen unsere familiären Beziehungen (Eltern-Kind /Geschwister) unsere Führungsarbeit? Wie gehen wir mit möglichen Konflikten um?
  5. In welchen Lebensphasen befinden wir uns und wie tragen wir den daraus entstehenden Bedürfnissen im Unternehmensalltag Rechnung?

Claudia Binz Astrachan, Hochschule Luzern – Wirtschaft

Beitrag teilen

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *