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Jobs in der Industrie für Studienabgänger – Anzug oder dreckige Schuhsolen?

Etliche Studienabgänger aus wirtschaftsnahen Richtungen entscheiden sich für Jobs bei Banken oder Versicherungen. Die interessante Industriebranche geht vielmals vergessen. Die Abgänger verfallen dem Prestige der gängigen Anzug-Jobs. Muss das sein?

«Wenn ihr einer von vielen sein wollt, dann geht zu Banken und Versicherungen. Wenn ihr einer von wenigen sein wollt, dann geht in die Industrie.»

«Wenn ich nach einem Unternehmensbesuch Späne in meinen Schuhsolen finde, weiss ich, dass ich am richtigen Ort war.»

Mit den Aussagen eröffnet Markus Wyss die Einführung in das covid-bedingte Alternativprogramm zur Studienreise am 07.09.2020 in Rotkreuz. Das diesjährige Motto lautet: «Digitalisierung in der Industrie».

Mehr Schein als Sein

Wolkenkratzer (Quelle: Unsplash)

Eine in an einem wirtschaftsnahmen Studium eher selten zu findende Einstellung. Denn Unternehmungen aus der Banken-, Versicherungs- und Unternehmensberatungsbranche buhlen bereits bei unteren Semestern stark um die zukünftigen Absolventen. Sie locken mit gut gekleideten und geschulten ehemaligen Abgängerinnen und Abgängern, welche erzählen wie schön die Arbeit bei den Grossen und Schönen ist. Wie modern die Büroräumlichkeiten sind und wie viele Fringe Benefits sie bereits ab dem ersten Tag erhalten. Vielmals haben sie damit Erfolg. Denn die Vorzüge sind verlockend und machen Eindruck.

Die Unscheinbaren

mechanische Arbeit (Quelle: Unsplash)

Doch was ist mit den vielmals kleineren und praktischeren Unternehmen? Sie wenden weniger Ressourcen für den Druck von Promo-Hochglanzzeitschriften und für das Sponsoring von Studierenden-Events auf. Sie arbeiten aber mindestens so hart und bewirken mit ihrem Tun mindestens so viel. Die Industrie-KMU’s welche in der Schweiz immerhin rund 30% an Arbeitsplätzen (BFS, 2018) ausmachen, haben sehr viel zu bieten.

KMU-Beschäftigte nach Sektor in VZÄ (Quelle: KMU HSG)

Etliche spezialisierte Industriebetriebe, welche echte physische Produkte herstellen tragen täglich und eher still einen beachtlichen Beitrag zur Schweizer Wirtschaft bei. Unternehmen in welchen ein normaler Arbeitstag um 07:00 Uhr mit einer läutenden Glocke startet und keine gut gestylten jungen Mitarbeitenden um 09:30 Uhr mit Starbucks-Kaffee in der Hand und EarPods in den Ohren ins Büro schneien. Unternehmen in welchen Lernende nicht nur fürs Mails beantworten und Slides erstellen verantwortlich sind, sondern bereits nach einigen Wochen Maschinen bedienen und echte anfassbare Produkte herstellen. Diese sowohl für die Wirtschaft aber auch für die Gesellschaft wichtigen Unternehmen gehen leider viel zu oft vergessen.

Digitalisierung in der Industrie mit den Schlagwörtern «Industrie 4.0» oder «Industrie 2025» birgt extrem grosses Potential und ist ein äusserst interessantes Wirkungsfeld. Die Industrie wandelt sich. Die Änderungszyklen verkürzen sich von früher noch 1000 Jahren pro Zyklus zu heute nur noch ungefähr 20 Jahren. Tendenz stark abnehmend. In der Industrie gibt es trotzdem noch grosse Mengen an unausgeschöpftem Potential. Viele Prozesse starten nach wie vor mit Stift und Papier. Prozesse über die Erstellung von Prototypen bis hin zur effektiven Produktion der Endprodukte umfassen die Arbeit von vielen unterschiedlichen Personen mit unterschiedlichen Programmen und Arbeitsweisen. Hört sich sofort nach grossen Ineffizienzen und hoher Fehleranfälligkeit an. Viel interessante Arbeit zu tun also.

Höchste Eisenbahn

Die Beratungsfirma McKinsey erwartet, dass wegen der Digitalisierung bis 2030 eine Million Jobs in der Schweiz wegfallen. Gleichzeitig sollen dank dem Technologieschub 800’000 neue Jobs entstehen. Daraus resultiert ein Jobdefizit von 200’000 Jobs. Es lässt sich nur vermuten, welche Jobs genau wegfallen und welche neu entstehen werden. Einerseits werden vermutlich viele administrative, nach wie vor händisch ausgeführte Tätigkeiten wegfallen. Deshalb versuchen viele Nicht-Industrie-Unternehmen bereits heute, Jobs dieser Art einzusparen. Dafür werden Automation und Robotic Process Automation eingesetzt. Letzteres vor allem für Unternehmen, welche Legacy Systeme im Einsatz haben, die bereits seit Urzeiten im Einsatz sind. Für wiederkehrende Vorgänge mit diesen Systemen werden heute vielmals noch Menschen eingesetzt. Robotic Process Automation kann aber eine Vielzahl dieser Tätigkeiten zu einem hohen Anteil selbständig übernehmen. Egal um welche Uhrzeit und viel weniger fehleranfällig als ein Mensch. Andererseits werden auch in der Industrie etliche Fliessbandarbeiten durch Roboter ersetzt. Hier gelten die gleichen Vorteile wie bei den administrativen Tätigkeiten. Ein Roboter kann 24 Stunden durcharbeiten und dies mit einer viel tiefere Fehlerquote als sie ein Mensch an gleicher Stelle hat.

Zug verpasst (Quelle: Unsplash)

Allen Unternehmen droht eine grosse Gefahr. Die Gefahr den Anschluss zu verpassen, wenn der Schalter auf Digital und Automation zu spät umgelegt wird. Früher war der Produzent die bestimmende Kraft, heute ist es die Kundschaft. Es gilt also Unternehmungen fit für die digitale Zukunft zu machen und so rasch möglichst umzudenken. Wo früher ein Vertrieb über den mehrstufigen Grosshandel und den kleinen Firmenladen war, sollte heute einen direkter Online-Shop sein. Wo gestern ein Unternehmen «nur Teile produziert» sollte heute die ganze Wertschöpfungskette anvisiert sein. Wer jetzt nicht auf den Zug aufspringt hat ihn wohl für immer verpasst. Ohne Ersatzzug oder Alternative. Genau dort sollten Studierende aus der Richtung BWL, Informatik und Wirtschaftsinformatik als Schaffner bereitstehen und die Unternehmungen auf ihrer Fahrt begleiten.

Die Transformation

Doch nun stellt sich die Frage, wo das Wirken genau dieser Profile mehr Einfluss hat. Wo es mehr zu verändern gibt und wo das Handeln schlussendlich mehr bewirken kann. Aus meiner hat dabei die Industrie die Nase vorn. Durch das Verschmelzen von neuen Technologien wie bspw. Robotics, Automation, AR und VR bieten sich nahezu unendliche Möglichkeiten, die in der Industrie völlig neue Wege offenbaren. Diese aber effizient und im Alltag praktikabel zu machen, ist eine riesige Herausforderung. Eine Herausforderung, für welche es genau solche Profile wie diese von Wirtschaftsinformatikern braucht. Profile, welche Technik, IT und Business zusammenbringen und durch gemeinsamen Konsens neue Möglichkeiten entwickeln. Sicher gibt es solche Möglichkeiten auch bei Banken und Versicherungen, aber sie wirken nicht so weitreichend und divers wie in der Industrie.

Viele der Tätigkeiten, welche aktuell bei grossen Banken und Versicherungen von Abgängern aus den Bereichen Wirtschaft ausgeführt werden, werden vermutlich wegfallen. Dies zeigt sich klar in Entwicklungen wie Stellenabbau, Niederlassungsschliessungen und Budgetkürzungen dieser Unternehmen. Die Komprimierung der Dienstleistungen auf das wesentliche Minimum, mit immer weniger menschlichem Kontakt, ist enorm. In der Industrie hingegen finden Wandelungen vom reinen Produzenten zum Dienstleister statt. Das Beispiel von Hilti verdeutlicht genau diese Entwicklung. Hilti, jeher bekannt als Hersteller und Vertreiber von Bohrwerkzeugen und anderen Baugeräten, verkauft heute Löcher in Wänden auf Abruf. Auch andere Unternehmungen können heute plötzlich ganze Wertschöpfungsketten abdecken und ihr Portfolio erweitern. An den wesentlichen Punkten gestützt durch technische Hilfsmittel ergeben sich völlig neue Wege für Industrieunternehmen, die Bedürfnisse der Kundschaft zu befriedigen.

Schriftzug Change (Quelle: Unsplash)

All diese, die einen Beitrag zu solchen bedeutenden Veränderungen leisten können sollten sich trauen in Industrieunternehmen zu gehen und auf die extravaganten Anzüge und Büroräumlichkeiten verzichten. Auch wenns mal dreckige Schuhe geben sollte. Auch wenn das früher Aufstehen am Anfang schwer fallen wird und auch wenn der Name der Unternehmung in der Gesellschaft nicht jedem bekannt sein wird. Jeder Handwerker und jeder Praktiker wird bestätigen: Es gibt nichts Schöneres als etwas Neues erschaffen zu haben und in den Händen zu halten, was wirklich funktioniert. Schöne Slides erstellen und gut aussehen können viele. Wirklich etwas bewegen nur wenige. Traut euch!

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Nino Orlando

Nino Orlando ist Student bei der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften – SML und bloggt zum Modul Studienreise des Studiums MSc Wirtschaftsinformatik.

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