Aufgewachsen als Teil einer Unternehmerfamilie entwickelte Torsten Pieper schon früh ein großes Interesse an und Gespür für Familienunternehmen – mit ein Grund, weshalb er sich heute als Forscher schwergewichtig mit den Themen Familie und Unternehmen beschäftigt. Seine Dissertation mit dem Titel „Zusammenhalt in Unternehmerfamilien“ war eine der ersten wissenschaftlichen Abhandlungen, die sich gezielt mit dem Thema des Familienzusammenhaltes in Unternehmerfamilien auseinandersetzte – und Familienzusammenhalt (oder Kohäsion) als zentrale Voraussetzung zur Sicherung des Überlebens einer Unternehmerfamilie identifiziert. Im Interview spricht Torsten über die Bedeutung des Familienzusammenhalts und über die verschiedenen Formen, die Kohäsion annehmen kann, und was die Unternehmerfamilie tun kann, um den Zusammenhalt zu stärken.
Claudia Binz Astrachan: In Deiner Dissertation schreibst Du, Familienzusammenhalt sei zentral für das langfristige Überleben einer Unternehmerfamilie. Woher stammt Dein Interesse am Thema Familienzusammenhalt, und wie bist Du zum Schluss gekommen, dass eine Unternehmerfamilie ohne Zusammenhalt zum Scheitern verurteilt ist?
Torsten Pieper: Seit eh und je fasziniert mich die Frage, weshalb manche Familienunternehmen über Jahrhunderte hinweg erfolgreich fortbestehen, wohingegen unzählige andere schon nach einer oder zwei Generationen (und manchmal sogar schon früher) scheitern. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, habe ich kurzum eine Handvoll langlebiger Familienunternehmen angesprochen und sie gefragt, was ihrer Meinung nach der Grund ihrer Langlebigkeit sei. Meine Vermutung, basierend auf dem damaligen Stand der Forschung, war, dass diese (langlebigen und erfolgreichen) Familienunternehmen exzellente Corporate Governance Mechanismen haben – sprich, sie die Schnittstelle von Eigentum und Unternehmen sehr professionell handhaben. Mein ursprünglicher Fokus lag also auf der Unternehmensseite. Im Laufe der ersten Interviews kristallisierte sich allerdings ein ganz anderer Grund für die Langlebigkeit der Unternehmen: Ein Interviewpartner nach dem anderen betonte die Notwendigkeit, die Familie des Unternehmens professionell zu managen. „Wenn Sie das hinbekommen, ist der Rest (d.h., das Management des Unternehmens) ein Klacks.“ brachte es ein Interviewpartner – wenn auch etwas überspitzt – aber sehr zutrefflich auf den Punkt. Das war ein „Heureka-Moment“ für mich, und so fokussierte ich dementsprechend meine Dissertation und einen Großteil meiner Arbeit seither auf die Familienseite des Unternehmens, und insbesondere auf die Frage, wie man eine wachsende Unternehmerfamilie auf lange Zeit zusammenhalten kann. Die Antwort auf diese Frage ist keineswegs trivial. Unternehmer gehen häufig davon aus, dass die Familie zueinander und hintereinander steht – was auch immer kommen mag. Das mag in kleineren „Kernfamilien“ der Fall sein, wenn alle Familienmitglieder „unter einem Dach leben“ und gegenseitige Verpflichtung noch relativ einfach durchsetzbar ist. Aber wenn Kinder erst einmal aus dem Haus gehen, Angeheiratete hinzukommen und die Familie wächst, wird es immer schwieriger, Interessen „auf einen Nenner“ zu bringen und die Großfamilie als ein Ganzes zu handhaben. Denn das tut sich nicht von alleine. Meine Forschung zeigte unter anderem, dass langlebige und erfolgreiche Unternehmerfamilien das Management der Großfamilie als eine essentielle Aufgabe verstehen und erhebliche Ressourcen darauf verwenden, oftmals mehrere hundert Familienmitglieder aneinander und an das Unternehmen zu binden.
CAB: Du identifizierst in Deiner Forschung verschiedene Bindungsmechanismen – sprich, verschiedene Arten, wie Familienmitglieder sich mit dem Unternehmen und der Familie verbunden fühlen. Weshalb ist es wichtig, dass sich eine Unternehmerfamilie dieser unterschiedlichen Mechanismen bewusst ist?
TP: Bevor wir auf diese Frage eingehen, sollten wir kurz vorab vielleicht näher definieren, was Zusammenhalt ist, und was positive Konsequenzen von Zusammenhalt sind. Zusammenhalt (auch Gruppenkohäsion genannt) bezeichnet das Gemeinschaftsgefühl oder das „Wir-Gefühl“ einer Gruppe. Es gibt etliche Arten der Messung, aber praktisch lässt sich Zusammenhalt gut daran messen, wie sehr einzelne Gruppenmitglieder Teil der Gruppe bleiben möchten bzw. wie wenig sie die Gruppe verlassen möchten (zwei unterschiedliche Seiten der gleichen Medaille). Echter Zusammenhalt bedarf keines Zwangs oder eines Gefühls der Geiselnahme (bewusst oder unterbewusst). Die Sozialpsychologie und Gruppenforschung insbesondere haben schon relativ früh gezeigt, dass Gruppen mit stärkerem Zusammenhalt höheres gegenseitiges Commitment und Altruismus unter ihren Mitgliedern haben, das Überleben und den Nutzen der Gruppe vor individuelle Bedürfnisse stellen, und schneller Entscheidungen treffen können. All dies ist natürlich vor allem in einem Unternehmenskontext von hoher Bedeutung.
Nun zu den Bindungsmechanismen: Meine Arbeit hat gezeigt, dass Zusammenhalt in Unternehmerfamilien mehrdimensional ist. Die Quelle der Binding kann das Unternehmen oder die Familie sein; und die Art der Binding kann emotionaler oder finanzieller Natur sein. Kombiniert man die beiden Dimensionen, so ergeben sich vier Arten des Zusammenhalts: emotionale Bindung an die Familie, finanzielle Bindung an die Familie, finanzielle Bindung an das Unternehmen, sowie emotionale Bindung an das Unternehmen. Ohne auf die Details einzugehen, bedarf jede Art des Zusammenhalts unterschiedlicher Voraussetzungen und benutzt unterschiedliche Mechanismen zu ihrer Förderung. Jede Art des Zusammenhalts kann separat auftreten; aber in Kombination ergeben sich Synergieeffekte, die den Gesamtzusammenhalt umso mehr stärken und robuster gegen eventuelle Störungen machen. Ein kleines Beispiel zur Verdeutlichung: Eine Familie, die ihren Zusammenhalt überwiegend auf finanzielle Bindung an das Unternehmen aufbaut, wird Schwierigkeiten haben, ihre Mitglieder effektiv zu binden, falls es dem Unternehmen aus welchem Grund auch immer nicht gut gehen sollte und Dividenden, Gehälter oder sonstige Ausschüttungen an Familienmitglieder drastisch reduzieren muss. Und falls diese finanzielle Durststrecke länger andauern sollte, wird es der Familie ggf. umso einfacher fallen, ein potenzielles Übernahmeangebot eines Käufers anzunehmen, was durchaus das Ende des Familienunternehmens bedeuten könnte. Eine Familie hingegen, die ihren Zusammenhalt sowohl auf finanzielle Bindung an das Unternehmen als auch auf emotionale Bindung an die Familie oder das Unternehmen aufbaut, hat mehr Möglichkeiten, derartige finanzielle Krisen mit anderen (nichtfinanziellen) Mechanismen abzufedern. Zum Beispiel durch die Tatsache, dass die Weiterführung des Unternehmens als unabhängiges Familienunternehmen ein Wert an sich darstellt, der weit über finanzielle Erlöse hinausgeht. Die höchste und robusteste Form der Bindung erreicht man, wenn man alle vier Arten des Zusammenhalts miteinander in Balance bringt.
CAB: Bist Du während Deiner Recherche auf gewisse Problemfelder gestoßen – auf Faktoren oder Dynamiken, die Familienzusammenhalt schwächen oder gar zerstören?
TP: Es gibt unzählige Gründe, die den Familienzusammenhalt gefährden. Joe [Astrachan] sagt doch oft sehr zutreffend, dass die Mischung aus Familie und Unternehmen so heikel sei, wie Nitroglycerin vom Explodieren fernzuhalten („Family and business can mix, but it is like keeping nitroglycerine from exploding.“) Probleme entstehen zum Beispiel häufig dann, wenn eine gemeinsame Vision und geteilte Werte fehlen. Unternehmerfamilien verwenden oft erhebliche Energie und Ressourcen darauf, um hochkomplizierte formelle Corporate Governance Strukturen aufzubauen, in Hoffnung darauf, dass diese die Familie einig halten werden. Formelle Strukturen sind zu gewissem Maße wichtig, aber zu viel Formalität und Struktur macht Organisationen und Familien häufig rigide und schnüren ein, wie ein Korsett. Das hemmt Flexibilität und reduziert Reaktionsgeschwindigkeit, was vor allem in Zeiten wachsender Ungewissheit und Komplexität immer wichtiger wird. Dieser Zustand wird umso kritischer, wenn informelle Aspekte der Bindung auf der Strecke bleiben.
CAB: Was kann eine Unternehmerfamilie konkret unternehmen, um den Familienzusammenhalt zu stärken – und lässt sich das angesichts der Einzigartigkeit von Familien wirklich verallgemeinern?
TP: Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Auf informeller Ebene stehen eine gemeinsame Vision, die bei Weitem wichtiger ist als irgendwelche individuellen Ziele, und gemeinsame Werte an erster Stelle. Wichtig ist hier, dass alle Familienmitglieder die Vision und die Werte teilen. Was diese Vision genau ist und woraus die Werte im Einzelnen bestehen, das muss jede Familie für sich selbst definieren. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Vor einigen Jahren habe ich eine Familie aus Japan kennengelernt, deren Ziel es ist, als die Familie in die Geschichte einzugehen, die die japanische Halbinsel wiederaufgeforstet hat. Dazu benutzen sie ihre Unternehmen, deren Gewinn zu einem Grossteil dazu verwendet wird, um Wiederbewaldungsprojekte zu finanzieren. Interessant ist auch, dass die Wertevermittlung in vielen Unternehmerfamilien bereits mit der Erziehung der Kinder beginnt (lesen Sie hiezu den Artikel ‚Developing Future Leaders in Family Business‘). So werden bei Familientreffen z.B. separate Meetings für die nächste Generation veranstaltet, wo ihnen vermittelt wird, was die Werte der Familie sind, was es bedeutet, ein Mitglied der Familie zu sein, und was die Erwartungen an sie sind, und welches Verhalten akzeptable oder unakzeptabel ist. Wenn alle diese Werte teilen, werden daraus gelebte Regeln des Benehmens und der Verantwortung.
Auf formeller Ebene gibt es Governance Mechanismen, Beiratsgremien und andere Strukturen, die der Kommunikation aus der Familie ins Unternehmen und aus dem Unternehmen in die Familie dienen können. Und diese sind wichtig. Aber in meiner Erfahrung sind es die informellen Mechanismen, die die formellen Mechanismen mit Leben füllen. Oder, anders ausgedrückt, formelle Mechanismen allein reichen nicht aus, um Zusammenhalt herzustellen und langfristig zu sichern. Es bedarf (vor allem) informeller Mechanismen wie einer gemeinsamen Vision und geteilter Werte.
CAB: In der Familienunternehmensforschung ist Familienzusammenhalt auch heute noch ein wenig beachtetes Thema – auch wenn diverse wissenschaftliche Studien sowie unsere Erfahrungen aus der Praxis eindrücklich belegen, dass Zusammenhalt ein zentraler Determinant der Langlebigkeit ist. Gerade in Krisenzeiten oder Konfliktsituationen zeigt es sich immer wieder, dass geeinte Familien resilienter sind als Familien mit schwachem Zusammenhalt. Weshalb denkst Du, dass dieses Thema auch in der Beratung so wenig Beachtung findet?
TP: Das ist in der Tat ein Problem. Ich glaube es liegt zum Teil daran, dass Management-Berater überwiegend auf Unternehmensebene agieren, weil sie auf der Schiene trainiert sind und glauben, sich dort am besten auszukennen. Von den „soft issues“ – wie Familiendynamik (Lesen Sie hierzu die Interviews mit Joe Astrachan – Teil 1 & Teil 2) und Familienzusammenhalt – halten sie sich lieber fern. Nicht anders geht es den Familientherapeuten, die sich mit psychologischen Themen sehr gut auskennen, allerdings in Unternehmens- oder finanziellen Fragen weniger versiert sind. Beide Bereiche kompetent abzudecken ist schwierig und Berater mit Kenntnis auf beiden Seiten sind eher selten. Ganz ähnlich sieht es auf der Forschungsseite aus. Aufgrund ihres Trainings konzentrieren sich viele Wissenschaftler auf Fragen im Unternehmensbereich. Das wird noch mehr dadurch gefördert, dass Daten über Familienaspekte empirisch schwieriger zu erheben sind. Zwar gibt es Fortschritte in letzter Zeit, aber die Forschung betrachtet die Familie des Familienunternehmens überwiegend als einen monolithischen Block und ignoriert, dass Unternehmerfamilien oftmals aus mehreren hundert Mitgliedern bestehen. Wie organisieren sich diese Gruppen? Welche Entscheidungsprozesse verwenden sie? Wie groß können Familien werden, bevor sie entscheidungsunfähig werden? Diese und andere Fragen sind nach wie vor weitestgehend unbeantwortet. Mit IFERA, The International Family Enterprise Research Academy (www.ifera.org), der weltweit größten Forschervereinigung im Bereich Familienunternehmen, bemühen wir uns um mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit – vor allem mit Familienforschern und Sozialpsychologen – und mit der Zeit wird sich das Bild hoffentlich ändern. Der stete Tropfen höhlt den Stein.
CAB: Und nun zum Schluss: Wenn Du einer Unternehmerfamilie nur einen einzigen Ratschlag mitgeben könntest – welcher wäre das?
TP: Unternehmerfamilien halten sich oft zurück, wenn es um das Management der Familie geht. Auch stehen sie ihren Überlebenschancen häufig eher pessimistisch gegenüber. Aber Langlebigkeit ist durchaus möglich. Familien wie Merck oder Haniel sind der Beweis dafür. Zusammenhalt macht den Familieneinfluss konstruktiv. Und je früher man anfängt, Zusammenhalt aufzubauen, desto besser.