von Olga Shpakova, Absolventin Minor Digitalisierung und Soziale Arbeit, Mai 2022
Der digitale Wandel bedeutet die «Ausweitung des Einsatzes digitaler Technologien» auf alle gesellschaftliche Bereiche (Stalder, 2018, S. 8). Die damit verbundenen Transformationsprozesse tangieren nicht nur gesellschaftliche Strukturen, sondern auch menschliche Psyche mit Auswirkungen auf das Fühlen, Denken und Verhalten. Die Digitalisierung erweist sich als Stressfaktor, weil sie im ohnehin psychisch belasteten Arbeitsalltag von Sozialarbeitenden zusätzliche Unsicherheiten produziert und in einer Geschwindigkeit stattfindet, welche Reflexionsprozesse hinterherhinken lässt.
Die digitale Transformation ist omnipräsent und unumkehrbar. Die Unmöglichkeit hinter die Algorithmen zu sehen, erzeugt Unübersichtlichkeiten, Desorientierung und Vertrauensverlust. Gemäss Grunwald befürchten viele Menschen gegenüber Robotern, Algorithmen und Künstlicher Intelligenz zu verlieren (2020, S. 79). Dies wirkt sich oft seitens Professionellen der Sozialen Arbeit in den negativen Bewertungen von Veränderungsprozessen und -zielen und schlussendlich in deren Ablehnung aus. Dabei ist der gesellschaftliche Wandel gerade für die Soziale Arbeit von grosser Relevanz: Denn trotz den vielfältigen technischen und technologischen Fortschritten stellt er bestehende Fragen von sozialer Gerechtigkeit, Teilhabe und Machtverhältnissen neu auf (vgl. Doerk et al., 2020). Für Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft öffnet sich ein grosses Tätigkeitsfeld, in dem aktive Mitgestaltung seitens Sozialer Arbeit nicht nur erwünscht, sondern unabdingbar scheint, wenn z.B. predictive social work (Beranek, 2019) oder Quantifizierung und Datafizierung des Sozialen (Mau, 2021) diskutiert wird.
So stellen sich mit dem digitalen Wandel hohe Anforderungen an die Professionellen der Sozialen Arbeit. Eine offene Haltung, Mut zur Veränderung und Kompetenzen zur Mitgestaltung des Wandelns sind jedoch schwer einzufordern (vgl. Capurro, 2017, S. 188). Systemtheoretisch gesehen, ist Psyche ein eigenständiges, in sich geschlossenes System, welches sich ununterbrochen aus sich heraus reproduziert und mithilfe neurophysiologisches Systems des Körpers und des Kommunikationssystems der Gesellschaft mit anderen Systemen interagieren kann (vgl. von Ameln, 2004, S. 117). Gemäss Luhmann versucht Psyche – auf die Kontingenz ihrer Umwelt reagierend – sich durch das Medium Bewusstsein zu verorten und registriert Ungewissheit, welche mit Bildung von Erwartung stabilisiert wird. Die Erwartung kann als Orientierungsform verstanden werden, als Technik zur Sinngenerierung. Mittels Erwartungserfüllung oder -enttäuschung ergeben sich Verhaltensmöglichkeiten, wobei psychische Anpassungen an Erfüllungen oder Enttäuschungen in Systemen als Gefühle erscheinen. Erwartungen können sich zu Ansprüchen verdichten oder auf das Erwarten reduziert werden, was Gefühle unterschiedlicher Stärke hervorruft, um das psychische Geschehen wieder in Ordnung zu bringen (Luhmann, 1991, S. 362-364, 371).
Grawe (2004) spricht in diesem Zusammenhang (in Anlehnung an Epstein) von vier psychischen Grundbedürfnissen, welche für alle Menschen gelten und welche sie zwecks eigenen Wohlbefindens erfüllen müssen. Diese Grundbedürfnisse dienen der Bildung von motivationalen Zielen und liegen jedem Handeln zugrunde (S. 185-186). Wenn motivationale Ziele oder Erwartungen nicht mehr im Einklang mit der sich verändernden Umwelt stehen, geraten viele aufeinander abgestimmte innerpsychische Prozesse in Konflikt miteinander. Dies beeinflusst das psychische Geschehen und zielorientierte Aktivitäten des Organismus, welche der Erfüllung von psychischen Bedürfnisse dienen. Werden psychische Bedürfnisse wiederholt und anhaltend verletzt, tritt der Zustand der Inkonsistenz auf (Grawe, 2004, S. 187, 191): der Zustand «der Uneindeutigkeit, der Ambivalenz, des nicht Wissens, wie sich verhalten» (Grawe, 2004, S. 305). Er wird von einem erhöhten emotionalen Pegel begleitet und drückt sich in Ängsten und Widerständen aus. Dies führt zur Entwicklung von Abwehr- und Vermeidungsstrategien und bindet Aufmerksamkeit und psychische Energie (Grawe, 2004, S. 190, 373). Die mit dem digitalen Wandel verbundenen Veränderungen und erforderlichen Anpassungen können nicht als bewältigbare Herausforderung, sondern als Bedrohung und Einschränkung der Handlungsfreiheit empfunden werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der digitale Wandel nicht nur die Veränderungen in Bereichen Reorganisation von organisationalen Strukturen und deren Vernetzung betrifft, sondern in erster Linie Anpassungsfähigkeit und -motivation von Sozialarbeitenden. Sind die Veränderungen zu komplex und deren Auswirkungen nicht antizipier- und kontrollierbar, reagieren Menschen mit negativen Gefühlen und Abwehrreaktionen bis zum Krankwerden. Werden deren Befindlichkeiten und Verhalten berücksichtigt, können kommunikativ und partizipativ Lösungen erarbeitet werden.
Literaturverzeichnis
Beranek, Angelika (2019). Big Data Analysen für die Soziale Arbeit. Online-Vortrag. https://www.youtube.com/watch?v=b755aDUuzzk
Capurro, Raphael (2017). Homo Digitalis. Beiträge zur Ontologie, Anthropologie und Ethik der digitalen Technik. Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-17131-5_14
Doerk, Michael, Huber, Alois, Luginbühl, Monika, Sierra-Barra, Sebastian, Stade, Peter, Steiner, Oliver & Waldis, Barbara (2020). Positionspapier: Soziale Arbeit und Digitalisierung. https://www.sozialdigital.eu/wp-content/uploads/2020/09/Positionspapier_Digitalisierung_DE.pdf
Grunwald, Armin (2020). Digitalisierung. Zwischen Fortschrittoptimismus und Technikdämonisierung. In Mathias Lindenau & Marcel Meier Kressig (Hrsg.), Schöne neue Welt? Zwischen technischen Möglichkeiten und ethischen Herausforderungen (S. 77-99). Vadian Lectures Band 6. Transcript
Luhmann, Niklas (1991). Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp
Mau, Steffen (2021). Die Datafizierung der Gesellschaft. Online-Vortrag. Reihe «Konturen der nächsten Gesellschaft». https://www.youtube.com/watch?v=P2vOOLDiZj0
Stalder, Felix (2018). Herausforderungen der Digitalität jenseits der Technologie. Synergie. Fachmagazin für Digitalisierung in der Lehre, 05, 8-15. https://www.synergie.uni-hamburg.de/de/media/ausgabe05/synergie05-beitrag01-stalder.pdf
Von Ameln, Falko (2004). Konstruktivismus. UTB
Bildverzeichnis
Menschliche Psyche im Zentrum des digitalen Wandels. Bloggrafik. Eigene Darstellung mit Canva.
Digitalisierung und psychische Grundbedürfnisse. Videopodcast. Eigene Darstellung mit Canva. Audioschnitt mit Clideo.