Experiment / Dokument

Der folgende Text ist eine schriftliche Fassung des Vortrages von Volko Kamensky im Rahmen des MiED-Workshops Notation als Arbeits- und Erkenntnismittel in der künstlerischen Forschung.

In meinem Abstract zum heutigen Vortrag habe ich mich selbst als Macher von experimentellen Dokumentarfilmen ausgewiesen. Ich will deshalb kurz erläutern, wie ich die Begriffe Experiment und Dokument für mich nutze, und warum ich meine Arbeiten nicht schlichtweg als Experimentalfilme oder Dokumentarfilme bezeichne. Wenn ich mich als Künstler auf das Experimentelle beziehe, so nicht in der Hoffnung, jetzt endlich die Möglichkeit zu haben, alles wild durcheinander zu schmeissen und mal zu sehen, was dabei rauskommt, so ein sich hartnäckig haltendes Missverständnis hinsichtlich experimenteller Kunst. Nein, was mich am Experiment interessiert, das wäre, eine Frage an die Wirklichkeit zu stellen, eine Hypothese aufzustellen und sie anschliessend zu überprüfen, Variationen von Einstellungsgrössen vorzunehmen und die Resultate nebeneinander zu stellen. Alles Kennzeichen, die das wissenschaftliche Experiment seit jeher ausmachen. Zum Dokumentarischen, dem noch deutlich problematischeren Begriff, möchte ich festhalten: mir geht es tatsächlich um eine besondere Verpflichtung hinsichtlich der Darstellung einer vorgefundenen Wirklichkeit. Nicht an absoluter Freiheit in der Darstellung ist mir gelegen, sondern eher an der Auseinandersetzung mit einem selbst auferlegten Problem. Nämlich der einfachen, wiederkehrenden Frage: Ist meine Darstellung adäquat?

Siegfried Kracauer fasst im Epilog seiner Theorie des Films (1985: 395), die von ihm ausgemachte Spezifik des Mediums Film unter der Zwischenüberschrift „Materielle Evidenz“ zusammen.

«Indem das Kino uns die Welt erschliesst, in der wir leben, fördert es Phänomene zutage, deren Erscheinen im Zeugenstand folgenschwer ist. Es bringt uns Auge in Auge mit Dingen, die wir fürchten. Und es nötigt uns oft, die realen Ereignisse, die es zeigt, mit den Ideen zu konfrontieren, die wir uns von ihnen gemacht haben.»

Ich möchte das Augenmerk auf den Schlusssatz legen, der Kino als Möglichkeitsraum ausweist, in dem unsere Vorstellungen mit realen Ereignissen konfrontiert werden. Mir scheint, der Dokumentarfilm hat diese Möglichkeiten im Speziellen, nutzt sie jedoch viel zu selten.

Vorweg vielleicht noch eine Art disclaimer: Mir selbst ist unklar, wieviel ich zur Fragestellung der Notation im engeren Sinne werde beitragen können. Der Schwerpunkt meiner Präsentation wird auf Formen der Aufzeichnung liegen, die im Herstellungsprozess Anwendung finden, das heisst, von denen im fertigen Film häufig lediglich Spuren erhalten bleiben. Gestern wurde auf eine Überrepräsentation einer Nachträglichkeit der Notation in den vorgestellten Projekten hingewiesen. Dem zumindest kann ich entgegenwirken. Bei mir geht es um Aufzeichnungen, um Notizen zur Formfindung, die im Prozess der Herstellung entwickelt wurden. Und noch ein zweiter Punkt vorweg. Das Feld der künstlerischen Forschung reklamiere ich nur notgedrungen für meine Arbeit. Welche Physikerin sagt von sich: Ich bin Physikerin und arbeite in der physikalischen Forschung? Oder welcher Mediziner: Ich bin Mediziner und arbeite in der medizinischen Forschung? Nein, wäre ich Mediziner, so wäre meine Formulierung: Ich bin Mediziner und ich arbeite in der Forschung. Nur zu gerne würde ich sagen können: Ich bin Filmemacher und ich arbeite in der Forschung.

Auch wenn Forschung immer schon Bestandteil ambitionierter künstlerischer Arbeit war und auch wenn die ersten Filmemacher*innen ganz selbstverständlich Forscher*innen waren, vielleicht sogar sein mussten, werden Künstler*innen gegenwärtig, vielleicht nur vordergründig, aber deshalb nicht minder hartnäckig, lediglich als Produzent*innen, als Macher*innen, als Unternehmer*innen wahrgenommen. Forschung darf in diesem Bereich gerne behauptet, sie sollte aber bitte nicht allzu ernsthaft betrieben werden, da sie zu schnell auf Kosten der Produktion geht.

Ich will im Folgenden versuchen, einige Einblicke in meine Arbeitsweise zu gewähren bei der jedes Projekt sein je eigenständiges Setting einfordert und Aufzeichnungsverfahren jenseits von audiovisueller Bild- und Tonaufzeichnung Anwendung finden. Es wird sich zeigen, dass die technisch aufwändigen Verfahren nicht unbedingt die wirkungsvollsten sind. Oder genauer: Ich werde meinen Schwerpunkt in dieser Präsentation auf einige vielleicht sogar antiquiert anmutende Methoden legen, deren besondere Eignung sich in meiner Praxis jedoch bewiesen haben.

Abb. 1: Volko Kamensky, E:U:R:O:P:A, Teil 01 (Filmstill)

Ich möchte ein paar Einblicke geben in ein aktuelles Projekt, oder vielleicht wäre die richtigere Bezeichnung in ein Langzeitprojekt, mit dem Titel E:U:R:O:P:A, das in zwei Akte gegliedert ist. Der erste Teil, der erste Akt, ist einem europäischen Ort gewidmet, an dem Krieg nachbereitet wird, und der zweite Teil einem zweiten europäischen Ort, an dem Krieg vorbereitet wird. Thema des ersten Teiles ist der Ort Oradour-sur-Glane im Südwesten Frankreichs. Einige von Ihnen werden diesen Ort vermutlich kennen. Es ist ein Ort, der 1944 von einer Panzerdivision der SS überfallen wurde und der heute als Gedenkstätte, als Erinnerungsort genutzt wird. Im Zuge dieses Überfalls wurde die gesamte anwesende Zivilbevölkerung, das heisst mehr als 600 Menschen, ermordet, der Ort anschliessend vernichtet. Seither wird versucht, Oradour-sur-Glane in diesem Zustand seiner Vernichtung zu konservieren und Besucher*innen zugänglich zu machen. (Abb. 1) Eine Besonderheit dieses Ortes ist der Friedhof, der paradoxerweise einer der lebendigsten Teile dieses Dorfes darstellt.

Dem gegenüber steht ein Portrait eines zweiten Ortes. Das ist ein Dorf in Deutschland, in Unterfranken im Norden Bayerns. Der Ortsname ist Bonnland. Auf dem Ortsschild untertitelt mit «Übungsdorf». Bei Bonnland handelt es sich um ein Dorf, das 1936 unter nationalsozialistischer Herrschaft «abgesiedelt»wurde, das heisst die gesamte Bevölkerung wurde umgesiedelt. Ziel war es, den Ort dem nahgelegenen Truppenübungsplatz einzuverleiben und fortan zur Erprobung von Häuserkampf zu nutzen. Unter anderem der Überfall auf Polen wurde hier vorbereitet. Heute wird der Ort weiterhin zur Erlernung von Häuserkampf genutzt. (Abb. 2) Neben der Bundeswehr wird der Ort aber auch von anderen sogenannten «befreundeten Truppen» genutzt. Französische und niederländische Truppen, überhaupt sämtliche Nato-Partner können dort trainieren. Des Weiteren wird der Ort genutzt von zivilen Organisationen, wie dem Technischen Hilfswerk, dem Katastrophenschutz, die diesen Ort für das Durchspielen von Rettungsszenarien nutzen. Bonnland ist für Externe ein nicht minder verstörender Ort, als der des ersten Aktes. Was ins Auge springt ist der eigenwillige Zeitschnitt, der an diesem Ort geschehen ist: Dass es mehrheitlich eine Konservierung von Architektur ist, wie sie in den 1930er-Jahren ganz allgemein sichtbar gewesen sein dürfte in deutschen Dörfern.

Abb. 2: Volko Kamensky, E:U:R:O:P:A, Teil 02 (Filmstill)

Wie bin ich bei diesem Projekt vorgegangen und welche Mittel habe ich eingesetzt, um bestimmte Ideen festzuhalten? Da wäre zunächst einmal, noch lange, bevor ich überhaupt das erste Bild gedreht habe, eine sehr umfangreiche Online-Bildrecherche. Ich habe verschiedenste mir zugängliche Printmedien genutzt und eine relativ umfangreiche Bildersammlung erzeugt. Das sind alles Fotografien, die mir nachzuvollziehen ermöglichen, wie die Orte von anderen wahrgenommen und repräsentiert werden. Diese Fotos, die erstmal digital vorliegen, drucke ich aus, sortiere sie auf grossen Tischen und an Wänden zu bestimmten Blöcken, um sie dann zu einzelnen thematisch gebundenen Bildtafeln zu ordnen.

Abb. 3: Beispiel Bildtafel Oradour-sur-Glane

Am Ende eines solchen Prozesses ergibt das eine grosse Kiste mit lauter solchen Tafeln zu unterschiedlichen Themen: zum Beispiel zu den Hinweistafeln, die sich aus verschiedenen Zeiten an der Gedenkstätte Oradour-sur-Glane finden; zu den Besucher*innen vor Ort; zum Friedhof; zur Darstellung der Toten, oder zur Darstellung der Ränder dieses Ruinendorfes, in welchen sich schon abzeichnet, dass es einen neu gebauten Ort gibt. Diese Tafel zeigt, wie diese Grenze zwischen der Gedenkstätte und dem bewohnten, neu gebauten Ort in Bildern erfasst wird.

Abb. 4: Beispiel Bildtafel Oradour-sur-Glane

Das gleiche Verfahren wende ich auch für den zweiten Teil des Films an: auch hier wieder eine Reihe von Texttafeln mit strukturiertem gefundenem Bildmaterial. Das sind, wie gesagt, alles Ansichten, die nicht von mir gemacht sind. Diese Recherche ist entstanden, bevor ich die Orte überhaupt besucht habe.

Abb. 5: Mappe mit Fotos und Notizen

Vor dem Dreh, also nach Abschluss dieser Vorrecherchen, mache ich dann nochmals Recherchen vor Ort. «Location Scouting» möchte ich in meiner Praxis in Anführungsstriche setzen, weil es eben in dem Sinne gar kein direktes Scouting ist, sondern eine Ortsbegehung, ein Festhalten verschiedener Aspekte, die für mögliche eigene Bildeinstellungen und Tonaufnahmen in Frage kommen. Das folgende Bild zeigt ein Beispiel für Notizen, die in diesem Abschnitt des Prozesses entstehen. Auf der Ortsbegehung mache ich Fotos, die schon mögliche filmische Einstellungen vorwegnehmen. Dazu gibt es dann immer Notizen mit bestimmten, für mich wichtigen Distanzen, die ich vor Ort vorfinde, von anvisierten Brennweiten, also den Objektiven, die ich nutzen werde, und von Uhrzeiten, die sich als mögliche Uhrzeiten für den Dreh herausgestellt haben. (Abb. 5) Hinzu kommt dann noch unzähliges anderes Material, – wir haben das bei anderen hier vorgestellten Projekten schon wiederholt gesehen – irgendwelche selbst gezeichneten Karten von diesen Orten, die dann, wenn man nicht vor Ort ist, in der Vorbereitung eine möglichst genaue Planung sicher stellen sollen. Nur als kurzer Hinweis, das wird später noch wichtiger werden: Beim Dreh mache ich keine synchronen Bild-Ton-Aufzeichnungen. Das heisst, Bild und Ton werden komplett getrennt voneinander aufgezeichnet und finden erst später im Schnitt zusammen.

Nach dem Dreh, in einem weiteren Schritt, belichte ich wieder digitales Material aus, Standbilder von den von mir gedrehten Einstellungen, und sortiere diese in einer Art Karteikasten-Prinzip. Oben ist jeweils die Einstellungsnummer angegeben.

Abb. 6: Karteikasten mit Einstellungsnummern

Parallel zu dieser ganzen Bildrecherche begebe ich mich auf Textrecherche. Ich versuche, möglichst unterschiedliche Quellen heranzuziehen. Die Notizen organisiere ich auch hier wieder antiquiert als Karteikarten-System, wo ich bestimmte Stichworte festhalte und unten mit einem Kürzel kennzeichne, um welche Quelle es sich handelt.

Abb. 7: Textrecherche in Karteikarten

Diese ganzen Umstände deswegen, weil der Film eben nicht vorab «geschrieben» wird, sondern weil ich mit unterschiedlichen Formen von Notizen bestimmte Themen abarbeite, die zuvor festgehalten wurden und an denen entlang ich mich daraufhin bewege. Das eigentliche Drehbuch ist in meinen Arbeiten ein nachträgliches. In einem frühen Stadium des Filmschnitts kommen die Textrecherchen und die gedrehten Bilder zusammen. Hier zunächst in der Waagrechten und dann irgendwann finden Texte und Bilder in der Senkrechten zu Pärchen zusammen, das heisst, ich suche Verbindungen zwischen den gedrehten Bildern und den recherchierten Inhalten.

Abb. 8: Organisation Filmschnitt
Abb. 9: Erarbeitung Kommentarstimme

Bei diesem Projekt erfolgt dies alles mit dem Hintergedanken, einen Kommentar zu diesem Film zu entwickeln, der dann eingesprochen wird. In einem weiteren Zwischenschritt fasse ich diese Partikel, die zusammengefunden haben, in Mappen zusammen. Jede Mappe repräsentiert dabei eine mögliche Sequenz des Films und auf einzelnen Karten halte ich wiederum Text-Bild-Kombinationen fest. In diesem Stadium der Produktion mache ich eine erste Festlegung von Geräuschen und Atmos zu den jeweiligen Sequenzen. (Abb. 10) Um diesen Vorgang nochmals besser zu veranschaulichen, erlaube ich mir einen Rückgriff auf ein fertiges Szenenbuch eines früheren Films. So also wird die Tonebene vorbereitet: Die verschiedenen Farben der Post-its, entsprechen jeweils den Kategorien Sprecherstimme, Musik, Atmo und Tonmischung. (Abb. 5) Diese Mischung aus Print und Handschrift nimmt die verschiedenen Schichten des Audios vorweg, die der Film später aufweisen wird. Die Frage nach dem Ton und insbesondere seiner Herkunft spielt für mich immer eine sehr wichtige Rolle.

Abb. 10: Mappe mit Text-Bild-Kombinationen.

Auf ein wichtiges Problem dabei hat Oswald Iten in seinem Vortrag hingewiesen: die Unanschaulichkeit der Tonspur, das Problem der Unhörbarkeit, Nicht-Wahrnehmbarkeit des Eingriffs im Tonmaterial. Insbesondere in der dokumentarischen Produktion sehen sich Filmemacher*innen bei der Findung ihrer Einstellungen häufig mit einem vermeintlichen Widerspruch zwischen dem konfrontiert, was das Bild zeigt und dem, was der Ton zu hören gibt. Allzu häufig scheint das Eine nicht so recht zum Anderen passen zu wollen. Die Dokumentarfilmer*innen sehen sich daraufhin zu einer grundsätzlichen Wahl genötigt: entweder eine besonders glaubwürdige und wahrscheinlich erscheinende Darstellung erarbeiten oder aber, im Gegensatz dazu, einer vielleicht nicht glaubwürdig erscheinenden, aber tatsächlich wahren Darstellung den Vorzug geben. John Grierson wäre ein sehr entschiedener Vertreter der Glaubwürdigkeit und der Wahrscheinlichkeit. Die konträre Position dazu findet man bei Dziga Vertov. Er vertrat die Meinung, dass der Dokumentarfilm eben nicht dazu diene, eine Reproduktion unserer schon bestehenden Vorstellung der Welt zu realisieren, sondern Kamera und Mikrofon als ein ganz anderes Auge, ein ganz anderes Ohr zu nutzen seien. Dass das Kino uns also eine andere Welt zugänglich machen könne als jene, die uns über unsere menschlichen Wahrnehmungsorgane schon bekannt ist; in seinen Begriffen die Welt des Kino-Auges und des Radio-Ohrs.

Mir scheint, der Dokumentarfilm macht sich häufig nahezu selbst unbrauchbar für substanziellen Erkenntnisgewinn hinsichtlich seiner vorfilmischen Wirklichkeit, wenn er den Weg der Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit einschlägt und sich nicht mit dem konfrontiert, was Kamera und Mikrofon als vielleicht ganz andere Perspektive beizutragen wissen. Ich bin in meinen Filmen auf der Suche nach besonderen Formen der Tonaufzeichnung, nach Möglichkeiten der Tonwiedergabe, die es ermöglichen, die ihnen zugrunde liegenden Eingriffe nicht zu verdecken, sondern begreifbar zu halten.

In Alles was wir haben habe ich damit experimentiert, dass Geräusche und Atmosphären in einer dokumentarischen Filmproduktion eben nicht zwangsläufig auf eine Tonaufnahme zurückgreifen müssen, die an dem Ort selbst entstanden ist. Ich habe für den Film mit einem Programmierer und Tonkünstler zusammengearbeitet, Julian Rohrhuber, der  SuperCollider, eine Entwicklungsumgebung und Programmiersprache für Klangsynthese und algorithmische Komposition, mitentwickelt hat. Das Projekt Alles was wir haben hat die Entwicklung dieser Programmierumgebung sogar massgeblich vorangetrieben. Das folgende Bild zeigt wenige Zeilen Code aus SuperCollider, die Rohdaten für den Klang eines Martinshorns, den Julian Rohrhuber für mich geschrieben hat.

Abb. 12: Der Klang eines Martinshorns in SuperCollider.

Die Besonderheit dieses Films ist, dass ich keine Tonaufnahmen vor Ort gemacht habe, sondern Julian Rohrhuber in Gesprächen schilderte, was ich an diesen Orten gehört habe. Rohrhuber hat daraufhin, im Grunde genommen in Echtzeit – das ist eine Besonderheit dieser Programmierumgebung – diesen Code geschrieben. Sobald eine Zeile geschrieben ist, kann der Klang abgespielt, gehört und diskutiert werden. In einem dialogischen Verfahren sind so Geräusche und Atmosphären zu diesem Film entstanden, die nicht direkt die Verhältnisse vor Ort dokumentieren, sondern vielmehr meine Erinnerung an das vor Ort Wahrgenommene indirekt wiedergeben.

Wie nun ein solcher Ansatz mit den Begriffen von Grierson und Vertov in Einklang – oder auch nicht – zu bringen wäre, muss hier aufgeschoben werden. Ich möchte für unsere Fragestellung lediglich die Besonderheit einer derartigen Echtzeit-Klangsynthese hervorheben, die darin besteht, dass hier die Komposition, die Notation und die Aufführung eines Klangs in Eins fallen.  Dies darf als ein Hinweis mehr verstanden werden, dass es für die Notation innerhalb der künstlerischen Produktion offenbar kein vorgeschriebenes oder gar einheitliches zeitliches Moment gibt, sondern sich vielmehr zu jedem Zeitpunkt des jeweiligen Entstehungsprozesses ganz bestimmte Formen der Notation als notwendig oder zumindest möglich erweisen können. Insbesondere die Betrachtung dokumentarischer Arbeitsansätze scheint obendrein nahezulegen, dass die jeweilige Notation in den seltensten Fällen dem eigentlichen Werk vollständig vorausgeht, sondern dass sie sich, zumindest zu gewichtigen Anteilen, im Prozess erst sukzessive schreibt. Als federführend oder zumindest als Co-Autor*in darf hier eine vorgefundene Realität begriffen werden, die die ursprünglichen Vorstellungen der jeweiligen Filmemacher*innen geradezu durchkreuzt. Die eigentliche künstlerische Leistung der Filmemacher*innen bestünde dann nicht vordergründig darin, eine Notation komplett vorzugeben, sondern vielmehr empfänglich zu bleiben für die mitunter verstörenden Eingebungen einer vorfilmischen Realität.


Portrait von Volko KamenskyVolko Kamensky ist Filmemacher, bildender Künstler und Autor. Er lehrt und forscht zur Theorie und Praxis des Films und ist Mitherausgeber der Textsammlungen Ton: Texte zur Akustik im Dokumentarfilm (Berlin, 2013) und Danièle Huillet, Jean-Marie Straub: Schriften (Berlin, 2020). Filmografie (Auswahl): Divina Obsesión (1999), Alles was wir haben (2004), Oral History (2009).