Die Tonspur festhalten

Der folgende Text ist eine schriftliche Fassung des Vortrages von Oswald Iten im Rahmen des MiED-Workshops Notation als Arbeits- und Erkenntnismittel in der künstlerischen Forschung.

In meinem PhD-Projekt Subjektiv stilisierte Soundtracks geht es um Sound, unter anderem darum, den Videoessay als Methode zur Untersuchung von Filmtonspuren zu verankern. Dabei interessieren mich vor allem auch die Interaktion und die Verwischung der Grenzen zwischen Musik und Geräuschen. Im Vortrag heute werde ich vor allem darauf eingehen, wie ich bisher mit Notation umgegangen bin. Da stellt sich immer wieder die Frage: «Was ist ein Videoessay? Was ein akademischer Videoessay?» Wenn das Wort Essay fällt, dann geht es ja meistens um subjektive Reflexion, um Argumentieren, also grundsätzlich darum, anhand von audiovisuellen Clips zu denken. Das ist zwar keine umfassende Definition des Videoessays, dient aber als Folie vor der ich auf Videoessays eingehe. Die Community der Videoessay-Schaffenden grenzt ihn vom Essayfilm dadurch ab, dass dieser die Aneignung von bestehenden audiovisuellen Elementen pflegt, mit dem Ziel, diese Elemente kritisch zu durchleuchten. Bei einem akademischen Essay würde es entsprechend darum gehen, mit der Arbeit an bestehendem Material neue Erkenntnisse zu generieren. Ich habe mich für die Präsentation von heute für die Definition der amerikanischen Professorin Kathleen Loock entschieden: «The scholarly video essay should unfold academic arguments in dialogue with images and sound, and I think that academics who produce video essays, need to reflect on the critical potential of the themes, concepts, and theories they explore.» (In Search of Academic Legitimacy, in: The Cine Files, no. 15, Fall 2020, link)

Für mich persönlich ist Videoessay vor allem eine Arbeitsweise, um neue Erkenntnisse zu generieren und sicher kann man das auch als eine Art der experimentellen Forschung bezeichnen, wenn mit dem Neuschnitt von Filmclips bestehendem Material neue Erkenntnisse entlockt werden. Immer öfter wird auch der Begriff der videografischen Notizen verwendet. Für mich persönlich bedeutet das, mir audiovisuelle Beobachtungen zu notieren, indem ich entsprechende Bild- und Tonelemente aneinandersetze, und meist auch mit einem aussagekräftigen Titel versehe. Das sind wirklich Notizen. Das heisst auch, dass ich sie normalerweise niemandem zeige.

Im Prinzip ist der Umgang mit Filmclips auch ein Weg, das Problem der schriftlichen Beschreibung zu umgehen, oder sagen wir mal, zu entschärfen. Indem ich einen Filmausschnitt präsentiere, halte ich das Objekt der Untersuchung selbst in seiner eigenen Form fest, was für mich zumindest die analytische Arbeit oftmals erleichtert.

Aber ist der Videoessay an sich schon ein Notations-Instrument? Auch da gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. Grundlegende Aspekte, die den Videoessay für mich zu einer Art Notations-Instrument machen, sind die Selektion, die Variation und die Annotation. Also das Auswählen von Ausschnitten nach mehrmaligem, repetitivem Sehen, das Ändern beispielsweise der Geschwindigkeit oder auch der Laufrichtung eines Clips und natürlich die Fragen danach, wo eingesprochene oder schriftliche Anmerkungen notwendig sind, um einen Gedanken deutlich werden zu lassen. Ein Ausschnitt aus einem Video zum Film Paddington (Paul King, 2004) soll das verdeutlichen:

Im Grunde liefert der Ausschnitt vor allem Verständnishilfen für bewegte Bilder. Der Vorteil von Bildern ist ja, dass sie angehalten werden können. Standbilder können nebeneinandergestellt werden, ich kann sogar darüber zeichnen und so Einzelheiten hervorheben. Mit Sound geht das leider nicht, weil Ton immer an die zeitliche Dimension gebunden ist. Natürlich können auch Tonspuren schneller, langsamer oder rückwärts abgespielt werden, aber sobald ich sie anhalte, bleiben sie stumm. Wenn ich aber zum Beispiel eine Szene aus Disneys Dschungelbuch mit Musik aus einem anderen Disney-Film unterlege, dann kann ich immerhin visuell sozusagen eine Notation des Zitates machen: Ich kann das Zitat kenntlich machen, indem ich den Clip, von dem die Musik ursprünglich stammt, ebenfalls im Bild repräsentiere. Um die Aufmerksamkeit der Zuhörenden konkret auf zu untersuchende Merkmale zu lenken, bietet es sich oft an, akustische Phänomene im Bild sichtbar zu machen, mitunter also eine konkrete Form der Notation im Videoessay anzuwenden. Für Musik bevorzuge ich keine klassische Notenschrift, sondern eine auch für Nicht-Musiker:innen intuitiv verständliche Notation, die sich auch immer nach dem Stil des Filmes richtet, aus welchem das Material ursprünglich stammt. Im eben gezeigten Ausschnitt war mir wichtig, zu zeigen, dass es immer die gleichen vier Noten sind, die gespielt werden und dass jeder Ton gehalten wird, bis der nächste beginnt. Oder zu zeigen, dass ein gleiches melodisches Motiv in mehreren Filmen exakt wieder auftaucht.

An zwei weiteren Ausschnitten kann ich das noch etwas deutlicher aufzeigen:

Im ersten Beispiel lassen die Maultrommelklänge jeweils das ganze Bild erzittern. Morricone setzte in seinen melodiösen Stücken immer wieder solche musikalischen „Widerhaken“ ein und assoziierte die sizilianische Marranzano (Maultrommel) oft mit rohen, ungehobelten Figuren. Während ich bei der Melodie die Aufmerksamkeit auf die immer gleichen vier Legatotöne (B-A-C-H) lenken wollte, ging es mir bei der Visualisierung der Maultrommel darum, den bewussten Bruch mit dem wohlklingenden Legato zu betonen (ausgehend von der Wendung „to shake things up“). Die Tonhöhe war für die Visualisierung deshalb irrelevant. Weil es mir wichtig ist, jeweils nur jene Aspekte eines Klangobjekts zu visualisieren, auf die ich die Aufmerksamkeit lenken will, benutze ich selten vorgefertigte Plugins. Da die visualisierten Sequenzen innerhalb meiner Videos relativ kurz sind, würde es oft länger dauern, ein Visualisierungs-Plugin für meine Zwecke anzupassen, als wenn ich gleich von Hand animiere.

Hauptsächlich versuche ich in meinen Arbeiten wiederzugeben, wie sich ein Klang für mich persönlich anfühlt. Ist er weich, hart, verschliffen? Breit, schmal, hell, dunkel? Im zweiten Beispiel habe ich das wiederzugeben versucht:

Natürlich lassen sich ähnliche Elemente, die bei einer visuellen Musikanalyse Verwendung haben, auch für Geräusche und Rhythmen verwenden. Im ersten Beispiel zeigt ein einfacher Kreis rhythmisches Klopfen an. Im zweiten Beispiel habe ich versucht, die rhythmische Konstruktion einer Parallelmontage zu verdeutlichen. Um die entscheidenden Schnitte vorzubereiten, verwende ich eine Art Countdown.

Wenn man die Trennung zwischen Musik und Geräusch ignoriert, dann lassen sich auch Dialoge anhand ihrer Tonhöhe und dynamischen Eigenschaften visualisieren. Im folgenden Beispiel – wieder aus Paddington – versuche ich das in Form von Marmeladeklecksen. In einem anderen Beispiel ging es mir darum, die Ohren für den kontrollierten Sprechrhythmus des energischen Bankers zu sensibilisieren.

Um das Rauschen von Wind, Kleidern und Papier zu abstrahieren, habe ich versucht, eine neue, abstrakte Quelle dafür zu finden, die eben auch wieder irgendwie im Zusammenhang mit dieser Art Film steht.

Eine für mich produktive Technik ist, Geräuschquellen ins Bild zu zeichnen. Wenn im folgenden Beispiel im Off eine Bahnhofsglocke losgeht, dann kann die gezeichnete Animation im vorhandenen Bild die Hervorhebung bewirken, die ich beabsichtige. Im selben Videoessay habe ich aber auch festgestellt, in welchen Fällen diese Technik nicht funktioniert: Im Fall der Bahnhofsglocke steht der Signalcharakter im Zentrum. Auch das Bremsgeräusch des einfahrenden Zuges im Off funktioniert als Signal, dass der Abschied unmittelbar bevorsteht. Hervorheben wollte ich bei diesem Geräusch jedoch nicht die Quelle sondern den Klang: das scharfe Quietschen, welches die Gefühlslage der Protagonistin vertont.

Die definitiven Tonspurvisualisierungen entwickle ich jeweils erst ganz am Schluss, wenn der Videoessay mehr oder weniger fertig ist. Gleichzeitig entdecke ich gewisse Aspekte eines Klanges dann doch erst im Moment, wo ich ihn zu visualisieren versuche. Im Gegensatz zur Arbeit mit den Filmclips und den vorgängigen Videonotizen handelt es sich dabei aber trotzdem um eine Art der Notation, die nicht als Arbeitsinstrument sondern hauptsächlich für die Präsentation konzipiert ist.


Oswald Iten ist Filmwissenschaftler, Animationsfilmschaffender und Videoessayist. Er studierte an der Universität Zürich (Publizistik/Filmwissenschaft) und schloss mit einer Arbeit zum Thema Sound Design von David Lynchs MULHOLLAND DRIVE ab. Anschliessend Redaktionspraktikum beim Filmbulletin. Langjährige Forschungsschwerpunkte sind Tonspur, Farbgestaltung und Schnitt. Er ist freier Mitarbeiter des Filmbulletin und macht Vorträge und Filmeinführungen im Kino sowie Videoessays zu filmwissenschaftlichen Themen. Als Storyboarder, Layouter, Animator arbeitet er auch immer wieder an Animationsfilmen mit.