Vom 28.-29. März lud der Verband der Museen der Schweiz (VMS) zusammen mit dem Bundesamt für Kultur (BAK) zu einer Tagung ins Museum für Kommunikation nach Bern ein. Die Veranstaltung fokussierte das Ausstellen und Vermitteln von Lebendigen Traditionen.
Kurz etwas zum Hintergrund: Im Jahr 2012 veröffentlichte das BAK die Liste der Lebendigen Traditionen der Schweiz. Sie beinhaltet mündliche Traditionen, Theater, Rituale und Feste, Wissen und Praktiken im Umgang mit der Natur sowie traditionelle Handwerkstechniken. Dieses immaterielle Kulturerbe wird auch im musealen Kontext immer wichtiger und entsprechend thematisierte die Veranstaltung die Herausforderungen in diesem Zusammenhang. Im Fokus stand die Frage wie sich lebendige Traditionen, die sich ständig verändern und erneuern, überhaupt ausstellen und vermitteln lassen.
Musikalischer Auftakt
Als erstes empfing uns Nadja Räss mit einem authentischen Naturjodel. Nadja Räss, eine vielseitige Musikerin, ist künstlerische und operative Leiterin der KlangWelt Toggenburg, die vielfältige Erlebnisse in Kursen und Veranstaltungen zum Thema Klang anbieten. Ihrer Vermittlungstätigkeit treu bleibend lud sie uns gleich zum mitjodeln ein (doch, Museumsleute sind musikalisch).
Die formale Begrüssung erfolgte durch Gianna Mina, der Präsidentin des VMS, gefolgt von Isabelle Chassot, der Direktorin des BAK. Durch die Veranstaltung führte Marco Meier als Moderator. Vielen von uns dürfte er noch aus seiner Tätigkeit als Moderator der Sternstunden beim Schweizer Fernsehen bekannt sein. Sämtliche Beiträge wurden in den drei Landessprachen gehalten und simultan übersetzt. Eine Veranstaltung mit Niveau und mit kultur-wissenschaftlichem sowie politischem Anspruch. Dies zeigte sich auch in den Referatsbeiträgen.
Vom immateriellen Kulturerbe zu den Lebendigen Traditionen
David Vitali, Leiter Sektion Kultur und Gesellschaft des BAK, sprach davon, dass eine kulturpolitische Neubewertung des Kulturschaffens von Laien stattgefunden hat. Die UNESCO-Konvention über die kulturelle Vielfalt und das immaterielle Kulturerbe sind Ausdruck dieses Umdenkens. Diese ist durchaus auch als Instrument zur gesellschaftlichen Selbstverständigung zu verstehen: die Umsetzung der Konvention ermöglicht, uns auf die Suche nach kulturellen Praktiken zu machen die unsere gegenwärtige Gesellschaft prägen. Diese Suchbewegung, so führte David Vitali weiter aus, ist geprägt durch Partizipation, sie aktiviert zivilgesellschaftliches Tun und fördert kulturelles Engagement. Eine kulturelle Teilhabe wird ermöglicht. Im Zuge der Umsetzung der UNESCO Vereinbarung wechselte das «Immaterielle Kulturerbe» dabei seinen Namen hin zu «Lebendige Traditionen», ein Begriff welcher weniger abstrakt und dadurch besser vermittelbar ist.
Durch die Ratifikation der Konvention hat sich die Schweiz zu einer umfassenden Politik zur Bewahrung, Förderung und Erforschung der traditionellen Praktiken entschieden. Mit der Pflicht ein Inventar der Lebendigen Traditionen zu erstellen und dieses regelmässig zu aktualisieren. Gemäss David Vitali ist das Inventar in seiner vielstimmigen, dezentralen und partizipativen Entstehung nicht als definitorisches Abbild der Lebendigen Traditionen zu verstehen. Es ist keine staatliche Festschreibung, aber auch nicht das Produkt einer präzisen wissenschaftlichen Erhebung, sondern es ist das Ergebnis eines gesellschaftlichen und kulturpolitischen Diskurses. Durch den laufenden Prozess des identifizieren – dokumentieren – aktualisieren wird gleichzeitig auf das Spannungsfeld von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, also von stetiger Veränderbarkeit hingewiesen.
Biografie einer Abstraktion – oder was ist das «Lebendige» in einer Tradition?
Ellen Hertz, Professorin für Ethnologie an der Universität Neuenburg berichtete von ihrem SNF-Forschungsprojekt in welchem sie der Frage nach dem «Leben» in einer «lebendigen Tradition» nachgeht. Grundsätzlich, so Ellen Hertz, hätten VertreterInnen der Sozial- und Humanwissenschaften ein zwiespältiges Verhältnis gegenüber der UNESCO- Konvention (c‘est un casse-tête) . Trotzdem sei es für die Schweiz unumgänglich und wichtig gewesen die Konvention zu unterschreiben. Sie nannte zwei Gründe die dafür sprechen: erstens, die Konvention betont, dass ephemere und prozessbezogene Traditionen ein wichtiger Bestandteil des Kulturerbes sind und dass es sich dabei oft auch um alltägliche, aber intime Praktiken handelt. Als Beispiel nannte sie die Torrée – ein Grillfest im Freien. Eigentlich ein privat-familiärer Anlass, der für die Region aber so populär und bedeutungsvoll geworden ist, dass die Stadt Le Locle jedes Jahr für die Neuzuzüger eine grosse Torrée veranstaltet und so die neuen Einwohner für deren identitätsstiftende Wirkung sensibilisiert.
Ein weiterer positiver Aspekt der Konvention besteht in der Anerkennung der Tatsache, dass sich Lebendige Traditionen zeitlich verändern wie auch geografisch verschieben können. So haben sich diverse Traditionen im Laufe ihrer Existenz angepasst und neu geformt. Diese Dynamik gründet darin, führte Ellen Hertz aus, dass die Praktizierenden «ihre Tradition» oftmals dem Zeitgeist entsprechend hinterfragen, anpassen und optimieren, so dass sie für die Praktizierenden von alltagsnaher Bedeutung bleibt. Aus diesem Prozess folgt aber auch, dass Lebendige Traditionen, die diesem Anspruch der Praktizierenden über die Zeit nicht genügen einen «sanften Tod» sterben. Dieser pragmatische Ansatz beinhaltet somit gleich auch die Antwort auf die initial gestellte Frage nach dem «Lebendigen» in einer Tradition.
Vorbehalte äusserte Ellen Hertz hingegen gegenüber dem Umstand, dass die UNESCO-Konvention die problematischen Seiten von Lebendigen Traditionen wenig beleuchtet. Sie erklärte dies anhand einiger Beispiele aus dem Ausland (zwei davon):
- Novruz: die vermeintliche Glättung von Kontroversen: an einer individuellen Tradition festzuhalten bedeutet auch, sich von anderen Volksgruppen abzugrenzen. Dieser Umstand führt oft zu Oppositionen mit nationalistischem Grundgedanken gegenüber anderen Volksgruppen die die Tradition pflegen.
- die uygurische Meshrep: die Instrumentalisierung durch den Staat; China verlangte im Rahmen der UNESCO Konvention die Aufnahme der Meshrep ins Inventar der Lebendigen Traditionen, obschon die uygurische Minderheit nach wie vor unterdrückt wird.
Auch wenn die oben genannten Beispiele auf den ersten Blick nicht direkt mit der Schweiz in Verbindung zu bringen sind, so stehen sie doch im grösseren Zusammenhang einer umfassenden Politik zur Bewahrung von kulturellen Praktiken und Kultur an sich, zu welcher sich die Schweiz mit der Ratifikation der UNESCO Vereinbarung entschieden hat. Mit einem Verweis auf die anglo-schweizerische Unternehmung Glencore Xstrata, welche durch ihre globale Firmentätigkeit verschiedenste Kulturen in ihrer Grundexistenz bedroht, stellte Ellen Hertz zum Abschluss ihres Referats die kritische Frage in den Raum inwieweit die Schweiz diese Verantwortung auch gegenüber den Ansprüchen (multi-) nationaler Konzerne wahrnehmen kann und sollte.
Die Musealisierung von Lebendigkeit: ein Widerspruch?
Léontine Meijer-van Mensch, Kuratorin und Co-Direktorin im Museum für Europäische Kulturen in Berlin, thematisierte in ihrem Referat die Möglichkeiten der Musealisierung von Lebendigen Traditionen. Als Auftakt zu ihrem Diskurs über das Zusammenspiel von immateriellem Kulturerbe und Artefakten stellte sie fest, dass viele Museen in ihrer Vermittlungsarbeit immer noch die physische Materialität eines Objekts in den Vordergrund stellen. Dabei brauche es neben dem Exponat als Träger immer auch das Wissen über seine Funktion und die konzeptuelle Einbettung um das Immaterielle zu vermitteln. Sie erläuterte diesen Sachverhalt anhand eines Modells in welchem der physische Artefakt zwar als Datenträger funktioniert, dieser aber erst im Zusammenspiel mit der Funktion und dem Kontext (in welchem er verwendet wird) seine «Identität» erhält. Im Sinne einer Beseelung des Objekts.
Über die Funktionsebene und den Kontext kommt das Lebendige zum tragen, insbesondere wenn die Community, d.h. die Praktizierenden der Lebendigen Traditionen mit einbezogen würden. Dieser Einbezug sei im aktuellen Museumsumfeld nicht unbedingt gegeben, so Léontine Meijer-van Mensch, auch wenn sich das Rollenverständnis der Museen seit den 70er Jahren stetig verändert hat und versucht wird verschiedene Gesellschaftsgruppen in die Vermittlungsarbeit mit einzubeziehen (> museum community, social inculsion & museum 2.0). Sie illustrierte dies anhand zweier Beispiele: im National Museum of the American Indian wurden ausgegrabene, zerbrochene Tonkrüge sorgfältig restauriert und ausgestellt, was für die praktizierende Bevölkerungsgruppe problematisch war, da diese Krüge als Grabbeigaben bewusst zerbrochen wurden um das irdische Dasein für die Verstorbenen abzuschliessen. Auf der anderen Seite zeigt sich aber auch, dass die zeitgemässe und authentische Darstellung lebendiger Traditionen beim Publikum nicht immer akzeptiert wird: wenn zum Beispiel im Mille Lacs Indian Museum junge indigene Amerikaner traditionelle Musik in Baseballcaps und Jeans darbieten oder sie in IKEA-Küchen ursprüngliche Backwaren herstellen (es ist tatsächlich so, dass der Grossteil der nativen amerikanischen Bevölkerung nicht mehr in Tipis wohnt und auch keinen Federschmuck mehr trägt). Die alte, dekontexualisierte Musealisierung ist passé und sollte einer kontextbezogenen, in situ-Musealisierung Platz machen in welcher der direkte Bezug zum immateriellen Erbe bestehen bleibt, so Léontine Meijer-van Mensch. Als Beispiel: ausgestellte Gegenstände bleiben im Gebrauchskontext der Praktizierenden und werden ans Museum nur zeitweise „ausgeliehen“. Das Museum übernimmt dabei die Rolle einer dialogischen Plattform zwischen Objekt, Publikum und Praktizierenden. Das ist nicht neu, meinte Léontine, aber Kuratorinnen, Ausstellungsmacher und Museumsverantwortliche müssen sich ihrer Rolle als sogenannte «Liaison Officer» noch stärker bewusst werden. Dies verlange nach einer differenzierten Vermittlungsarbeit, welche die spirituellen und ephemeren Elemente eines Exponats respektiert und sie gleichzeitig sichtbar macht damit eine dialogische Interaktion mit dem Publikum ermöglicht wird.
Am Nachmittag der Tagung erfolgte ein geführter Besuch zweier Ausstellungen zur Thematik, welche durch ZMIK, dem Studio für räumliches Design, entwickelt und gestaltet wurden. In der Ausstellung «Rituale» des Museums für Kommunikation begaben wir uns auf eine Reise in eine abstrahierte Rituallandschaft. An unterschiedlichen «Inszenierungsorten» wurden Rituale als allgegenwärtige Kommunikationscodes aufgedeckt, die unser Leben strukturieren sowie Halt geben und Identität stiften. Auf einem Aussichtsplateau am Ende der Reise konnten an Touchscreens Rituale entschlüsselt und Neue entworfen werden. An den einzelnen Standorten präsentierten sich durchaus spannende Beiträge zum Thema und ein breites Spektrum an vielseitigen Vermittlungsansätzen wurde ausgelotet.
Die thematischen Regionen, so stand im Reiseführer zur Ausstellung, liessen sich in ihrer Materialität unterscheiden: „so funkeln die Höhen der Macht in blendendem Kupfer, die Felder des Alltags sind in weichen Teppich gehüllt, in der Ebene der Sicherheit bietet rutschfester Gummischrot den notwendigen Halt und auf Kork werden lebendige Traditionen erfahrbar gemacht.“ Trotz dieser Inszenierungsvielfalt vermisste ich das verbindende Element, die Dramaturgie einer Reise ging irgendwie verloren. Das Fernweh packte mich nicht, die Landschaft blieb abstrakt. Auch die digitalen Vermittlungsangebote, spielten sich – trotz didaktischer Umsetzung auf neusten Touchscreens – hauptsächlich auf sprachlicher Ebene ab. Offen blieb auch, inwieweit eine Lebendige Tradition (wie Schwingen) wirklich erfahrbar wird, wenn die Besucher auf Korkmatten sitzend einen Filmbeitrag über die erwähnte Tradition schauen.
Die Ausstellung «Helvetia Club» im Alpinen Museum der Schweiz gefiel mir hinsichtlich der räumlichen Inszenierung und der physischen Erfahrung besser. Sie thematisiert das 150 jährige Bestehen des Schweizerischen Alpen-Clubs (SAC). Das Museum wurde als eine geschichtenreiche Berghütte inszeniert, wobei in Aufenthalts-, Material- und Schlafräumen von Gipfelgefühlen, Kameradschaft und Konflikten, von Frauenfragen und Umweltsorgen erzählt wurde. Auf den Kissen im Massenschlag liegend konnte man persönlichen Portraits von SAC-Mitgiedern lauschen. Im Holdersaal vereinten sich schliesslich alle 152 SAC-Hütten zu einer schwebenden Topografie.
Anschliessend an die Begehung nahm uns Rolf Indermühle des Studio ZMIK mit auf einen Streifzug durch den szenografischen Raum, indem er uns die Entstehungsgeschichte der beiden Ausstellungen erklärte. Er betonte, dass es sich dabei um einen iterativen Prozess handelte bei welchem immer wieder zwischen den Anforderungen der Kuration, den gestalterischen Ideen und hinsichtlich der Realisierbarkeit verhandelt wurde. Als Gestalter sei es ihnen wichtig gewesen die unterschiedlichen Expertisen der Beteiligten in die Inszenierung einfliessen zu lassen. Die Herausforderungen in der räumlichen Inszenierungen manifestierten sich vor allem bei der Umsetzung abstrakter Begriffe und Prozesse, die sich nicht so einfach durch physische Objekte repräsentieren und vermitteln lassen. Für mich als Besucher widerspiegelte sich dieser Umstand in der Realisation der beiden unterschiedlichen Ausstellungen: während sich die Geschichte des SAC wunderbar am (und im) Objekt Berghütte erzählen liess, wirkte die Inszenierung der abstrakten Landschaft in der Ausstellung «Rituale» weniger überzeugend und zugleich fragmentarisch.
Zusammenfassend: eine fruchtbare und bestens organisierte Tagung. Auch wenn sich die Beiträge vielfach auf kulturwissenschaftlicher Ebene bewegten und sich der Besuch nicht unmittelbar in neuen Projektpartnerschaften niederschlug, so bot die Veranstaltung eine ausgezeichnete Möglichkeit der Vernetzung sowie die eigene Forschungstätigkeit in einem grösseren kultur- und gesellschaftspolitischen Kontext zu verorten.
Weitere Infos finden sich hier.
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2 Antworten zu „Ausstellen und Vermitteln von Lebendigen Traditionen (Tagung)“