Seminar 3:

KREUZUNGEN UND QUERUNGEN:
CHIMÄREN DES WOHNENS

STEFFEN HÄGELE & MATTHIAS WINTER

 

Hinter einem grossformatigen Portrait von Che Guevara versteckt sich der Zugang ins Innere einer verlassenen Kirche, welche Andersdenkenden und Ausgegrenzten als geheimer Zufluchtsort dient. Mit wenigen Mitteln bewohnen sie gemeinschaftlich die Räume der Kirche, schlafen in den Nischen der Seitenschiffe, während im weiten Mittelschiff gemeinsam gegessen, getanzt, gelacht und gefeiert wird. Das teilweise eingestürzte Dach lässt durch eine große Öffnung Licht einfallen und verwandelt das Mittelschiff in einen zum Himmel offenen Hof, in dem die Grenzen zwischen Innen- und Außenraum verschwimmen, zwischen dem Sakralen und dem Profanen, dem Privaten und dem Öffentlichen, zwischen Freude und Leid – fusst doch die surreale Schönheit dieses Moments auf der Notwendigkeit der Flucht und der Unmöglichkeit, Zugriff auf eine institutionalisierte Wohnform zu erlangen.
Zerfall und Schöpfung liegen in der beschriebenen Sequenz von Before Night Falls von Julian Schnabel nicht nur architektonisch sondern auch gesellschaftlich nahe beieinander, geht doch der destruktive Prozess der Verfolgung und der Prozess des Auseinanderbrechens einher mit dem kreativen Werden, dem Hervorbringen von neuen, produktiven Formen von Gemeinschaft. Am Rande der Gesellschaft werden auch die räumlichen Grenzen des Wohnens neu verhandelt.
In der Transgression des häuslichen Raumes in den kirchlichen, sakralen Raum lösen sich die gültigen Wohnideale, Normen und tradierten Formen des Zusammenlebens auf – frei von den scheinbar individualisierten Zeichen und Konsumgütern. Die Kreuzung und Querung dieses Raumes führt nicht nur zu einer Verwischung, einer „Chimerisierung“ des kartesischen Raumes (im Sinne einer eindeutigen Raumordnung), sondern auch des gesellschaftlichen. Hier entstehen Beziehungen jenseits eines Raumgefüges mit klaren Zuordnungen und Rollenbildern.
DIE RÄNDER DES WOHNENS UND DER WERT DES MARGINALEN
“Whatever is the object of our attention, we need to remember that it is at the edge of any thing, system or medium that the most interesting events take place.” (David Holmgren)
Ränder sind dynamische und produktive Teile aller natürlichen Systeme, an denen ein Austausch von Material und Energie stattfindet. Sie sind die Orte, an denen sowohl kooperative als auch konkurrierende Beziehungen zwischen Systemelementen und ganzen Systemen ausgetragen werden.
Genauso wie in der Permakultur die Ränder als Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Feldern entscheidend für Fruchtbarkeit, Stabilität und Vielfalt sind, ist es notwendig, den Blick auf die Ränder des Wohnens zu richten, um neue Wohnmodelle zu diskutieren und alternative Lebensweisen zu ergründen.
Wie ökologische Übergangsbereiche – zwischen Wald und Wiese, Wasser und Land, Hecke und Acker – besonders vielfältig und produktiv sind, so bergen auch die ‚Ränder des Wohnens‘ in der Überlagerung mit nicht-häuslichen Räumen großes Potenzial. In dieser Überlappung entstehen mehrdeutige und begegnungsreiche Räume, die sich den starren Normen des Konventionellen entziehen. Wohnungen, die in nicht-wohnlichen Strukturen wie Industriehallen, Zweck- und Gewerbebauten, sakralen Räumen oder anderen Sonderbauten entstehen, müssen anders gedacht werden als konventionelle Wohnformen und eröffnen neue Möglichkeiten.
In diesem Sinn untersuchen wir Anomalien und periphere Visionen des Wohnens, um über das Wesentliche aber Marginalisierte im Wohnen zu sprechen.
KONSUM VS. POIESIS
Verbreitete Dogmen, Konventionen und Normen des Wohnens werden massenhaft in mehr oder weniger festgelegte Wohngrundrisse und Raumgrössen übersetzt – mit hohem Land- und Ressourcenverbrauch. Wohnungen sind knapp, aber das Wohnen verkümmert zum Konsumgut. Dem gegenüber stehen Lebensräume, die nicht domestiziert sind und nicht im häuslichen Kontext verortet sind: Gekreuzte Räume sind – in Anlehnung an die Biologie – Kollisionen und Überlagerungen aus wesensunterschiedlichen Räumen und Nutzungen. Im Unterschied zu Marktwohnungen sind sie „Non-service oriented“ und „not ready to use“: Räume, welche nicht einfach als Wohnung konsumierbar sind, sondern Adaptionen und Aneignungen bedürfen. Der gekreuzte Raum fordert aktive Entscheidungen und Eingriffe der Bewohnerschaft. Als Beziehungsraum und piece of resistance widersetzt er sich den vorgefassten Wohnideologien und verändert wie wir leben.
Merkmale und Eigenschaften sind das Unvollendete und Unpassende, Selbstgemachte und Umgebaute, das Dilettantische und Nicht-Deterministische, Informelle und Inkrementale: Die Querung ist unperfekt. So wie Juan García Espinosa im Third Cinema Manifesto das perfekte, technisch und künstlerisch meisterhafte Kino als zumeist reaktionär beschreibt, ist auch perfekte Architektur meist rückwärtsgewandt: Sie zementiert bestehende Machtverhältnisse und Hegemonien und erweist sich als starr.
Im Sinne einer Poiesis bringen die Reibungen und Widersprüche im gekreuzten Raum etwas Neues hervor: Wohnen als schöpferische, nicht-passive Tätigkeit.
RAUM VS. PROGRAMM
Wir suchen Potentiale im Konflikt zwischen Programm und Raum. Jenseits von funktionalistischem Denken spüren wir einer programmatischen Unschärfe und radikalen Wandelbarkeit nach. Bernard Tschumi postuliert in Architecture and Disjunction:
„Die Beziehung zwischen Programm und Bauwerk kann höchst harmonisch und kongruent sein – oder konstruiert, künstlich und konfliktär. Letzteres fasziniert uns natürlich mehr, da es alle funktionalistischen Neigungen zurückweist.“
Die räumlich inkonsistenten, ambivalenten Räume entziehen sich einer klaren räumlichen und funktionalen Zuweisung und müssen stets neu verhandelt werden. Gekreuzte Räume sind programmatisch nicht abgeschlossene Räume. Sie provozieren Möglichkeiten anstatt Lösungen.
“You can sleep in your kitchen. And fight and love. These shifts are not without meaning. When the typology of an eighteenth-century prison is turned into a twentieth-century city hall, the shift inevitably suggests a critical statement about institutions. When an industrial loft in Manhattan is turned into a residence, a similar shift occurs, a shift that is undoubtedly less dramatic. Spaces are qualified by actions just as actions are qualified by spaces. One does not trigger the other; they exist independently. Only when they intersect do they affect one another.” (Bernhard Tschumi)
Die Anpassung geschieht in beide Richtungen: Der Raum wird verändert, das Wohnen passt sich an – Adaption und Exaptation. Der nicht-häusliche Raum in seiner spezifischen Dimension und räumlichen Eigenschaft verlangt nach einer Anpassung unserer Wohnideale an den Raum selbst. Gleichzeit eröffnet die funktionale Störung und die Zweckentfremdung die Möglichkeit der Aneignung und Besetzung. Der Beziehungsraum fluktuiert:
Events ‚take place’. And again. And again. (Bernhard Tschumi)
HYBRIDITÄT UND KOEXISTENZ
Die Mehrdeutigkeit welche diesen Räumen innewohnt wird zur Chance, und die Ambivalenz zum Potential: Alltagsräume werden aufgebrochen, neu verwebt und vielfältig zugänglich gemacht. Der gekreuzte Raum ist verflochten, es ist ein Raum der Beziehungen. Ohne Eindeutigkeit und im Modus des latenten Aushandelns, sind gekreuzte Räume inklusiv und demokratisch. Dem vitalen Elend unserer kommerzialisierten Wohnräume tritt der élan vital des Hybriden entgegen: Heterogenität, Abenteuer, Vertrauen ins Ungewisse und die Koexistenz von Differenzen.
In der Kreuzung des häuslichen mit dem Nicht-häuslichen, im un-heim-lichen Raum der dabei entsteht, in welchem sich zwei Welten begegnen und durchdringen, verdichten sich die Ereignisse.
METHODE UND PROJEKT
Das Seminar versteht sich als spekulative Suche und Kollektivprojekt: Wir erkunden gemeinsam den Grenzbereich von „Wohnen“ und sammeln Kreuzungen und Querungen mit anderen, fremden Programmen, Grundrisstypologien und Gebäudemorphologien.
Alle sind aktive Beteiligte und somit mitverantwortlich für das Gelingen des Seminars. Einerseits durch das Recherchieren und Aufbereiten von Fallbeispielen – jede Woche bringen alle Teilnehmer*innen eine Auswahl an bildlichen und textlichen, realen und fiktiven Dokumenten mit. Andererseits durch das engagierte Mitwirken im Seminar – in der Diskussion und in unterschiedlichen Rollen wie Protokollieren und Moderieren. Beide Teile fliessen in die Bewertung ein.
Ausgangspunkt ist der persönliche Erfahrungsschatz von allen Teilnehmer*innen und die Neugier auf radikale Wohnformen und Kreuzungen.
Der Modus der Recherche ist assoziativ-morphologisch und erlaubt sich reduktionistisch und opportunistisch zu sein. Lesen wird hierbei als Mittel zum Zweck eingesetzt um etwas zu hervorzubringen: entwerferisches Lesen ermöglicht es uns, wirkungsvolle und brisante Fragmente herauszugreifen und zu isolieren. Das Auswählen und Entscheiden wird zum vorgezogenen Entwurfsschritt.
Im Plenum werden wir uns in vier Nachmittagen einen stetig wachsenden Fundus gegenseitig vorstellen, diesen in der Mitte ausbreiten und diskutieren, auswählen und thematisch kuratieren. Die entstehende Sammlung wird ad hoc sortiert und fortlaufend neu verknüpft.
Verbindungen und Beziehungen führen schrittweise zu einer Sequenz mit Ordnung, die wir noch nicht kennen: Es ist gibt keine vorab definierte Auswahl an Themen und Kapiteln. Die Auswahl und Gewichtung ist offen und somit Teil der Kollektivarbeit.
Ziel ist ein uns bislang unbekanntes Panorama an Chimären des Wohnens, das wir gemeinsam zusammentragen, als Book of Copies aufbereiten und uns als kollektives Arsenal zugänglich machen.