Seminar 2:
WIE WOHNEN WIR? ARCHITEKTUR UND SOZIALE DYNAMIKEN IN DER STADT
HANAE BALISSAT UND RALF KELLER
«Landschaft ist ein Produkt der Wahrnehmung.»
Annemarie & Lucius Burckhardt
Ob Investorenarchitektur oder Genossenschaft – Wohnbauprojekte werden heute oft mit klangvollen Slogans wie «Taktgeber zum neuen Stadtteil» oder «Ein Stück Stadt für alle» beworben und vermarktet. Doch hinter diesen Werbeformeln verbergen sich komplexe gesellschaftliche, ökologische und ökonomische Fragen und Zusammenhänge, denen wir als Architekt:innen nicht aus dem Weg gehen sollten. Wir tragen eine besondere Verantwortung für die Entwicklung und Nutzung unserer Städte, insbesondere wenn es um gross angelegte Wohnbauvorhaben geht, bei denen ganze Stadtteile neu gedacht, umgenutzt oder komplett neu geschaffen werden. Diese Entwicklungen, die in letzter Zeit verstärkt zu beobachten waren, werfen grundlegende Fragen auf: Welche Formen des Zusammenlebens ermöglichen solche Projekte? Wie sozial gerecht, ökologisch nachhaltig und wirtschaftlich tragfähig sind sie? Wie beeinflussen Begriffe wie Aneignung, Gemeinschaft, Rückbau oder Verdichtung die Architektur und das städtische Leben? Und welche Rolle spielen wir als Planende in einem Spannungsfeld zwischen innovativem Entwurf, realer Nutzung und den oft kommerziellen Interessen von Investoren? Damit wir dieser besonderen Aufgabe gerecht werden können, sollten wir uns mit diesen Zusammenhängen intensiv auseinandersetzen, um uns informiert, selbstbewusst und verantwortungsvoll in diesem Kräftespiel zu positionieren.
THEMATISCHE SCHWERPUNKTE UND PROJEKTBEISPIELE
Um diese komplexen Fragestellungen praxisnah zu untersuchen, widmet sich das Seminar vier ausgewählten Projekten im Raum Luzern, die in den letzten Jahren umgesetzt wurden oder noch im Entstehen sind. Jedes dieser Projekte steht exemplarisch für aktuelle architektonische und gesellschaftliche Herausforderungen des Wohnens und bietet einen vielfältigen Zugang zu Diskussionen über Stadtentwicklung, Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung.
Am Beispiel des Bell-Areals in Kriens, einem ehemaligen Industrieareal, das an zentraler Lage über Jahrzehnte das Erscheinungsbild der Gemeinde geprägt hat, beschäftigen wir uns mit dem frühen Stadium eines Grossprojekts, bei dem die Umnutzung vorhandener Strukturen angestrebt wird. Aktuell – also noch vor der eigentlichen Bauphase der späteren Wohnungen und Gewerbeflächen – durchlebt das Bell Areal einen signifikanten Wandel. Die ursprüngliche Nutzung als Industriestandort mit Produktion und Werkstätten wird nach und nach aufgegeben. An deren Stelle tritt eine neue temporäre Nutzung mit Ateliers, Kulturveranstaltungen, Probelokalen und kreativen Werkstätten, die heute das Bild prägen. Eine zeitlich begrenzte Zwischennutzung ist hier das zentrale Thema, zumeist betrieben von Künstler:innen, Musiker:innen oder weiteren Akteur:innen aus den kreativen Milieus, die unter bestimmten Bedingungen als treibende Kräfte von Stadtentwicklungsprozessen gesehen werden. Zwischennutzungen bieten Freiräume für kreative Experimente, fördern soziale Vernetzung und ermöglichen Aneignungsprozesse, die oft über die reine Nutzung hinaus gesellschaftliche Dynamiken anstossen. Gleichzeitig stehen sie in einem Spannungsverhältnis mit der langfristigen Stadtplanung und den wirtschaftlichen Interessen, die eine dauerhafte Nutzung für kreative Zwecke nicht vorsehen. Die kritische Auseinandersetzung mit Chancen und Grenzen von Zwischennutzungen hilft zu verstehen, wie solche temporären Interventionen als Impulse für eine nachhaltige Stadtentwicklung wirken können.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf urbanen Grossprojekten, wie dem «4Viertel» am Seetalplatz in Emmenbrücke. Dieses Projekt steht für die städtebauliche Transformation und Verdichtung in suburbanen Räumen. Es verbindet den Anspruch an hohe Wohnqualität, Dichte und vielfältige Nutzungen mit dem Ziel, einen neuen Stadtteil mit eigenständiger Identität zu schaffen. Anhand architekturtheoretischer Texte zu Wohnkomfort, Urbanität und Individualisierung reflektieren wir das Spannungsverhältnis zwischen öffentlichem und privatem Raum, zwischen sozialer Durchmischung und der Gefahr von Segregation. Wir wollen herausarbeiten, dass Architektur in gewisser Weise auch auf die Lebensentwürfe und Vorstellungen ihrer Nutzer:innen reagiert, dass gesellschaftliche Trends und Erwartungen eine Rolle spielen und dass Architektur immer auch für eine Nachfrage produziert wird. Dabei soll deutlich werden, wie Architektur und Planung genutzt werden können, um Lebensqualität zu steigern und gleichzeitig integrative Strukturen zu fördern.
Das dritte Thema befasst sich mit zirkulärem Bauen und nachhaltiger Ressourcennutzung. Am Beispiel der Alten Ziegelei in Kriens wird deutlich, wie Architektur Verantwortung für Materialkreisläufe übernehmen kann. Statt Gebäudebestände abzureissen, setzt dieses Projekt auf Strategien des Weiterbauens und der Wiederverwendung. Die Alte Ziegelei und ihre Geschichte verdeutlichen darüber hinaus, dass Umnutzung nicht erst in der jüngeren Zeit ein Thema in der Architekturdiskussion geworden ist. Denn das um 1890 als Ziegelfabrik entstandene Gebäude wird schon seit etwa 100 Jahren zum Wohnen genutzt. Aus heutiger Sicht erscheint eine Haltung, die Umnutzungen und Re-Use bevorzugt, nicht nur ökologisch geboten, sondern fordert auch ein Umdenken in Planung und Ausführung. Unsere Diskussion soll das Verständnis vertiefen von Architektur als Prozess, der über den Neubau hinausgeht und eine lebenszyklusorientierte Perspektive einnimmt.
Ein weiterer wichtiger Fokus liegt auf dem gemeinschaftlichen Wohnen und der Aneignung von Wohnraum, exemplarisch erlebbar in der Wohnüberbauung «Teiggi» in Kriens. Ehemals für die Teigwarenproduktion genutzt, wurde das Gelände in einer intensiven Planungsphase auf die neuen Bedürfnisse einer Wohnbaugenossenschaft abgestimmt. Ab 2016 wurde es umgebaut und 2018 neu bezogen. Im Rahmen der Genossenschaft Wohnwerk wird Gemeinschaft nicht nur als abstraktes Ziel formuliert, sondern durch gemeinschaftlich genutzte Räume, eine reduzierte Wohnfläche pro Person und aktive Beteiligung der Bewohner:innen am Projekt konkret erfahrbar. Dieses Projekt regt dazu an, über neue Formen von Teilhabe, kollektiver Verantwortung und räumlicher Gestaltung nachzudenken. Welche architektonischen und sozialen Rahmenbedingungen fördern echte Gemeinschaft? Wo liegen Grenzen und Herausforderungen gemeinschaftlichen Wohnens? Und wie können solche Modelle als Gegenentwurf zu Individualisierung und Vereinzelung in der Stadtgesellschaft verstanden werden? Wir werfen auch einen Blick auf die Geschichte der Wohnbaugenossenschaften und schauen, wie sich die Forderung nach Aneignung von städtischem Raum in sozialen Bewegungen der Vergangenheit Gehör verschafft hat.
SEMINARSTRUKTUR UND ARBEITSWEISE
Das Seminar ist in zwei eng miteinander verzahnte Teile gegliedert. Im ersten Teil beschäftigen wir uns vertieft mit einer Auswahl an theoretischen, historischen und praxisorientierten Texten, die unterschiedliche Blickwinkel auf die jeweiligen Themen eröffnen. Diese Lektüre bildet die Grundlage für intensive und kritische Diskussionen im Seminar. Einige der Texte wurden dabei bewusst so gewählt, dass sie nicht nur informieren, sondern auch irritieren oder bestehende Vorstellungen hinterfragen. Indem wir uns mit Positionen auseinandersetzen, die anecken oder provozieren, möchten wir das kritische Denken der Teilnehmenden herausfordern und erweitern.
Freude an der Lektüre, Diskussionsbereitschaft und die Offenheit, eigene Gedanken einzubringen, sind zentrale Voraussetzungen. Kurze Referate der Studierenden zu den Texten fördern das gemeinsame Verständnis und die Reflexion. Die Vielfalt der Perspektiven soll helfen, die Komplexität des Wohnens in der Stadt differenziert zu erfassen.
Im zweiten Teil rücken wir die gebaute Umwelt in den Fokus. Durch gemeinsame Besichtigungen der Projektstandorte und durch fachliche Inputs von Expert:innen wird Architektur erlebbar und erfahrbar. Vor Ort können wir architektonische Qualitäten, soziale Dynamiken und städtebauliche Zusammenhänge unmittelbar wahrnehmen. Die Gespräche mit Fachpersonen aus Planung, Entwicklung und Bewohnerschaft bieten die Möglichkeit, verschiedene Blickwinkel zu verstehen und das theoretische Wissen durch reale Beispiele zu ergänzen. So wird das Seminar zu einem lebendigen Ort des Austauschs zwischen Theorie und Praxis.
AN WEN RICHTET SICH DAS SEMINAR?
Das Seminar richtet sich an Studierende, die das Wohnen als gesellschaftliches und architektonisches Thema verstehen wollen. Es fordert dazu heraus, über den reinen Entwurf hinauszudenken und sich mit sozialen, ökologischen und politischen Aspekten von Wohnprojekten auseinanderzusetzen.
Wir machen uns im Seminar auf die Suche nach Ansätzen für ein zukunftsfähiges, soziales und verantwortungsvolles Bauen, indem wir zuhören, kritisch denken, Texte mit Räumen in Verbindung bringen und eigene Standpunkte entwickeln.