Seminar 1:
WOHNGESPRÄCHE! KONZEPTIONEN UND MODELLE DES ZUSAMMENLEBENS
PROF. ANGELIKA JUPPIEN UND GÄSTE
LEONA LYNEN
SABINA RUFF
RAOUL SIGL
DAVID SGIER
Immer häufiger wird in Fachdiskussionen und öffentlichen Debatten betont, dass die gebaute Umwelt den gesellschaftlichen Veränderungen hinterherhinkt. So wächst in der Schweiz der Bedarf an Wohnkonzepten, die gemeinschaftliche, naturräumliche und partizipative Elemente – bis hin zum Selbstausbau – integrieren. Einige Planende und Trägerschaften setzen diese experimentellen Ansätze bereits statt auch um. Sie sind jedoch oft mit erheblichen finanziellen, sozialen und auch rechtlichen Hürden verbunden, die Trägerschaften, Planende und Bewohnende gleichermassen betreffen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach ihrer Zukunft. Leisten sie einen relevanten Beitrag zu bezahlbarem und ressourcensparendem Wohnen oder bleiben sie Nischen und Experimentierfelder?
Diesen Fragen gehen wir im Seminar WOHNGESSPRÄCHE nach und diskutieren in vier Workshops gemeinsam mit wechselnden Gästen gegenwärtige und zukünftige Aspekte des Wohnens und Zusammenlebens. Wir nehmen (Wohn-)Projekte in den Blick, die innovative Formen des Zusammenlebens erproben und damit auch die Perspektive auf den Zusammenhang von Wohnen, Arbeiten und Naturraum erweitern. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem «Anderen»: Im Fokus stehen alternative Wohnformen jenseits etablierter Standards als auch die Diversität der Bewohnerschaft mit ihren teilweise sehr unterschiedlichen Bedürfnissen. Wir gehen der Frage nach, inwiefern Wohnen zur Selbstermächtigung der Bewohner*innen beitragen kann. Darüber hinaus interessiert uns, wie Wohnraum für menschliche und nicht-menschliche Wesen nebeneinander bestehen oder miteinander in Beziehung treten kann.
Jeder Workshop widmet sich einem aktuellen Wohnprojekt, das wir unter einem übergeordneten Thema diskutieren. Dazu laden wir entweder die verantwortlichen Architekt:innen, Vertreter:innen der Trägerschaften oder andere Beteiligte zur Diskussion ein – oder besuchen das Projekt direkt vor Ort. Gemeinsam beleuchten wir verschiedene Phasen der Projekte: von der Entwicklung und Planung, über die bauliche Umsetzung mit den Architektenteams, bis hin zum Betrieb und der Nutzung der Räume. Wir fragen: Welche Akteur:innen realisieren Wohnräume «jenseits des Standards»? Was ist ihre Motivation? In welchen Prozessen und unter welchen Rahmenbedingungen entstehen diese Räume? Lassen sich die Projektvorschläge auf sogenannte etablierte Akteur:innen am Wohnungsmarkt übertragen, um mehr Differenzierung und Bedürfnisgerechtigkeit im Wohnungsangebot zu ermöglichen?
Da Wohnraum ohne die Ressource Boden nicht realisierbar ist und Boden zugleich als knappes Gut – vergleichbar mit Luft und Wasser – gilt, werden wir im Seminar ergänzend Texte lesen, die die Wechselwirkungen zwischen Wohnraumentwicklung und Bodenpolitik beleuchten. Dabei richten wir unseren Blick insbesondere darauf, wie politische, rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen den Zugang zu Boden, dessen Nutzung und Verteilung sowie die Entwicklung von Wohnmodellen beeinflussen.
Das Format lebt von der aktiven Beteiligung der Studierenden, die Verantwortung für die Bearbeitung und Vermittlung aktueller Projekte übernehmen und gemeinsam mit externen Gästen die zugrundeliegenden Rahmenbedingungen – von der Entstehung bis zum Betrieb – kritisch beleuchten. Zum Abschluss des Seminars verfassen die Studierenden kurze schriftliche Reflexionen, in denen sie ihre eigene Perspektive zur Zukunft des Wohnens entwickeln. Dabei beziehen sie sich auf die im Seminar behandelten Inhalte, die diskutierten Standpunkte sowie – falls möglich – auf ihren eigenen Projektentwurf.
WORKSHOP 1:
- Gast: Leona Lynen, Gründerin und Vorständin der Genossenschaft PFHAU eG.
- Projekt: PFHAU, Greiffenberg, Uckermark, D (https://www.pfhau.org)
- Text: Matthias Wiesmann: «Die Schweiz – ein Land der EidgenossInnen, Bürgergemeinden, Alpkorporationen und Allmenden». In: Brigitta Gerber, Ulrich Kriese (Hrsg.): Boden behalten – Stadt gestalten. Verlag rüffer & rub,
2019, S. 55-63
Im Zentrum des Workshops steht das Projekt PFHAU – ein Ort für gemeinschaftliche Wohn- und Arbeitsformen in Greiffenberg in der Uckermark. Das Ensemble aus Pfarrhaus, Gemeindehaus und Fachwerkscheune wurde 2021 im Baurecht erworben und wächst kontinuierlich durch neue Initiativen und Engagierte. So ist ein Ort entstanden, wo Wohnen, Gästehaus, Seminarbetrieb, Kulturangebote und Handwerk verbunden werden. Unsere Gästin Leona Lynen hat das Projekt PFHAU massgeblich initiiert und ist für die strategische Entwicklung und Leitung der Genossenschaft mit verantwortlich. Als Expertin für Koproduktion und nutzergeführte Stadtentwicklung wird sie uns einen Einblick in den Transformationsprozess, seine Gestaltung und die Rolle der Akteur:innen geben. Der Text von Matthias Wiesmann gibt den Rahmen und setzt Impulse für den Einstieg in die Diskussion um gemeinschaftliche Eigentums- und Nutzungsformen, indem er die Bedeutung historischer und institutioneller Modelle für die aktuelle Diskussion um Wohnen und Stadtentwicklung aufzeigt.
WORKSHOP 2
- Gast: Raoul Sigl, Conen Sigl Architekt:innen GmbH ETH BSA SIA
- Projekt: Westhof, Dübendorf (https://www.westhof.ch)
- Text: Vandana Shiva: «Terra Madre, indigene Weltanschauungen und das Gesetz des Bodens als Gesetz des Lebens». In: Karolin Mayer, Katharina Ritter, Angelika Fitz, Architekturzentrum Wien (Hrsg.): Boden für Alle. Verlag Park Books, 2020, S. 264-277
Im zweiten Workshop besuchen wir das Projekt WESTHOF, das vom Architektenteam Conen Sigl realisiert wurde. Das Vorhaben entstand auf dem Gelände einer ehemaligen Gärtnerei und wurde in enger Zusammenarbeit zwischen privaten und genossenschaftlichen Akteur:innen entwickelt. Ziel war es, vielfältige Wohnformen zu ermöglichen und die Bodenfläche möglichst gemeinwohlorientiert – und nicht ausschliesslich profitorientiert – zu nutzen.
Die Anlage soll nicht nur einer heterogenen Bewohnerschaft ein Zuhause bieten, sondern auch Tieren und Pflanzen Lebensraum schaffen. Wie beispielsweis das Anliegen der (Bio-)Diversität konkret umgesetzt wurde, wird uns Architekt Raoul Sigl erläutern.
Als theoretische Grundlage und Impulsgeberin dient ein Text der indischen Umweltaktivistin, Wissenschaftlerin und feministischen Bürgerrechtlerin Vandana Shiva, der den Boden nicht allein als ökonomische Ressource begreift, sondern als Träger sozialer, kultureller und ökologischer Bedeutung.
WORKSHOP 3
- Gast: Sabina Ruff, Co-Präsidentin der Genossenschaft Kalkbreite un Vorstandsmitglied
- Projekt: Kalkbreite / Zollhaus (https://www.kalkbreite.net)
- Text: Robert Temel: «Neue Wohnformen sind gefragt – There is an Alternative». In: Karolin Mayer, Katharina Ritter, Angelika Fitz, Architekturzentrum Wien Hrsg.): Boden für Alle. Verlag Park Books, 2020, S. 194-201
Im Fokus des dritten Workshops steht die Genossenschaft KALKBREITE in Zürich. Sie steht für die Erstellung und Vermietung von preiswertem Wohn- und Gewerberaum, die Verbindung von Wohnen, Arbeiten und Kultur, soziale Durchmischung sowie nachhaltige Entwicklung nach den Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft; ihr Handeln ist gemeinnützig und nicht gewinnorientiert. Die hier aufgeführten Ziele und die konkrete Praxis der Genossenschaft Kalkbreite verkörpern die von Robert Temel geforderten neuen Wohnformen und zeigen, dass es funktionierende Alternativen jenseits des traditionellen, profitorientierten Wohnungsbaus gibt. Ob Kalkbreite ein Anschauungsbeispiel für Temels zentrale These «There is an Alternative» ist, werden wir mit Sabina Ruff diskutieren können. Sabina Ruff ist Sozialwissenschaftlerin, sie verantwortet im Vorstand die Bereiche Organisation und Zusammenleben und hat in dieser Rolle auch die Realisierung des Zollhauses begleitet, das 2020 eröffnet wurde.
WORKSHOP 4
- Gast: David Sgier, Info Kommission Karthago und Bewohnender
- Projekt: Karthago (https://www.karthago.ch)
Text: Angelus Eisinger: «Die Stadt und das gemeinschaftliche Wohnen. Versuch einer Annäherung an eine widersprüchliche Beziehung». In: Susanne
Schmid, Dietmar Eberle, Margrit Hubentobler, ETH Wohnforum (Hrsg.): Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens. Verlag Birkhäuser,
2019, S. 117-122
Im abschliessenden Workshop des Seminars besuchen wir den Grosshaushalt Karthago in Zürich. Dieser befindet sich in einem ehemals leerstehenden Bürogebäude, das gemeinsam mit dem Architektenteam Spiro Gantenbein zu einem Wohnhaus für rund 50 Personen umgestaltet wurde. Die Bewohnerinnen leben in neun Wohngruppen und nutzen diverse kollektive Innen- und Aussenräume, wie beispielsweise eine professionell betriebene Grossküche und einen gemeinsamen Speisesaal. David Sgier wird das Projekt aus der Perspektive der Bewohnerinnen vorstellen und mit uns die Organisation, Struktur sowie den Mehrwert und die Herausforderungen des gemeinschaftlichen Wohnens im Karthago diskutieren. Der Text von Angelus Eisinger weitet dann nochmals unsere Perspektive:
Wir nehmen die «widersprüchliche Beziehung» des gemeinschaftlichen Wohnens in der Stadt in den Blick und diskutieren, welchen Einfluss kollektive Wohnmodelle auf bestehende Stadtstrukturen ausüben und warum sie einerseits eine wichtige, andererseits aber auch herausfordernde Alternative darstellen.