Vorlesung 1:
Wohnraum
PROF. Angelika Juppien
«Die Diskrepanz zwischen einer Mentalität, die an eingeübten Wohn- und Lebens-modellen festhält, und der faktischen Lebensrealität war noch nie so groß wie heute.»1
Diese These provoziert eine reichhaltige und spannende Diskussion zur Wohnarchitektur, der wir in der Vorlesungsreihe «Wohnraum» nachgehen werden. Uns interessiert: Warum sind die in Grundrissen festgeschriebenen und «eingeübten» Rituale und Hierarchien obsolet und ist ein radikales Neudenken von Beziehungsverhältnissen jenseits der bekannten bürgerlichen (Wohn-)Traditionen erforderlich? Dabei nehmen wir sowohl die Räume der «eigenen vier Wände» in den Blick als auch alle Räume, die mit ihnen in Beziehung stehen. Denn das Wohnen findet nicht nur in den eigenen vier Wänden statt.
Neben wohntypologischen Betrachtungen interessieren uns also die Wechsel-beziehungen zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen, Lebensbedingungen und Wohnformen. Grundrisse werden in Beziehung zum Gebrauch durch die Bewohnerinnen und Bewohner gesetzt. Sie werden im zeitlichen und räumlichen Kontext verortet. Dabei wird Wohnraum und seine Bedeutung – über die «eigenen vier Wände» hinaus – in unterschiedlichen Massstäben diskutiert und der Frage nachgegangen, welche politischen, technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen unsere Wohn- und Lebensformen beeinflusst haben respektive beeinflussen – und umgekehrt. Das Wissen um diese vielschichtigen Wechselwirkungen macht nachvollziehbar, warum wir so wohnen, wie wir wohnen. Es unterstützt aber auch die Suche nach möglichen Strategien zum ressourcenschonenden Wohnen, die ein Weiter und Zusammen-(über-)leben ermöglichen.
1 Sabine Kraft: Eingeübtes Wohnen. In: ARCH+ 176/177 Wohnen (Mai 2006), S. 48-50. S.50