Hintergrund

Im 20. Jahrhundert wurden zahlreiche Kinder aus ihren Herkunftsfamilien herausgenommen und in Anstalten, Heimen oder bei Pflegefamilien platziert. Dies oft ohne stichhaltige Gründe. Viele dieser fremdplatzierten Kinder sind schwer, einige sogar tödlich misshandelt worden. Immer wieder nahmen sich platzierte Kinder und Jugendliche das Leben. Doch trotz der Misshandlungen, Vernachlässigungen und der oft schlechten Lebensbedingungen wurde die Heim- und Pflegekinderaufsicht in der Schweiz lange Zeit nicht nur vernachlässigt, sondern so ausgeübt, dass (tödliche) Misshandlungen legitimiert oder gänzlich verheimlicht wurden. Damit wurden die Interessen der involvierten Personen und der Institutionen geschützt. Selbst tödliche Misshandlungen hatten oft keine rechtlichen Konsequenzen. Jugendlichen wurde die Schuld an ihrem (Frei-)Tod zugeschoben, indem sie beispielsweise schlicht als «geistig instabil» bezeichnet wurden. Dass (tödliche) Misshandlungen straffrei blieben, lässt sich zumindest zum Teil auf die gesellschaftliche Stellung der platzierten Kinder sowie negativen Einstellungen ihnen gegenüber zurückführen. So standen fremdplatzierte Kinder am Rande der Gesellschaft und noch heute lassen sich negative Einstellungen ihnen gegenüber finden.

Es ist zwar nicht klar, inwieweit die Todesfälle durch eine geeignete Aufsicht hätten verhindert werden können. Fest steht jedoch, dass das Risiko für eine Misshandlung – und letztlich auch das Risiko für einen gewaltsamen Tod – erhöht ist, wenn Anzeichen auf Misshandlung nicht beachtet, körperliche Strafen als geeignete Erziehungsmassnahme eingestuft werden oder die Einstellungen gegenüber fremdplatzierten Kindern negativ sind.

Bis heute liegt keine systematische Analyse von gewaltsamen Todesfällen fremdplatzierter Kinder und der Rolle der Behörden in ihnen vor. Folglich ist kaum etwas über diese Fälle und ihre Häufigkeit bekannt. Auch über vermeidbare Aspekte der Aufsichtspraxis und der behördlichen Fallbearbeitung, die potentiell das Risiko für einen gewaltsamen Tod eines platzierten Kindes erhöhen, fehlen Informationen.

Ziele

Die Studie verfolgt zwei Ziele:

  1. Es werden gewaltsame Todesfälle (Suizide, Tötungen) fremdplatzierter Kinder (0-21 Jahren) in den Kantonen Luzern, Freiburg, Waadt und Zürich in den Jahren 1913-2012 beschrieben und systematisch analysiert.
  2. Durch die Analyse der Aufsichtspraxis und der behördlichen Fallbearbeitung werden Einstellungen und Aspekte identifiziert, die das Risiko für platzierte Kinder erhöhen, eines gewaltsamen Todes zu sterben.

Relevanz

Die Studie untersucht erstmals gewaltsame Todesfälle fremdplatzierter Kinder und die Rolle der Behörden in ihnen. Sie schliesst damit eine Forschungslücke in der Schweizer Geschichte fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen, und macht auf das Schicksal der Betroffenen aufmerksam. Die Ergebnisse werden zum einen Einsichten in die Fälle liefern, zum anderen die Einstellung der Behörden und der Gesellschaft gegenüber platzierten Kinder aufzeigen.  Das Forschungsprojekt «Fatale Fürsorge» liefert sowohl eine Grundlage zur kritischen Prüfung künftiger Fälle als auch zu deren Verhinderung.