Fabio Reinhart, der 1942 in Bellinzona geborene Architekt und ehemalige Professor der ETH Zürich und Gesamthochschule Kassel lehrte seinen Studierenden alles über die Architektur der 70 und 80er Jahre. Er selber war während dieser Zeit tätig, denn nachdem er zwei Jahre Assistent von Aldo Rossi war, gründete er mit seinem Kollegen und Arbeitspartner Bruno Reichlin 1970 ein eigenes Architektur-Büro in Lugano, das sie 15 Jahre lang zusammen führten. Die beiden wurden durch das Einfamilienhaus «Casa Tonini» und später durch diverse Restaurationsarbeiten bekannt. [1][2][3] 

Ein Frühwerk von ihnen war die «Casa Tonini» in Torricella, Lugano von 1972-74 für einen Mathematiker (siehe Abb. 1). Als Inspiration galt die Villa Rotonda von Andrea Palladio und sein sogenannter Palladianismus. Der Palladianismus ist der geprägte Baustil vom Architekten Andrea Palladio, welcher in Mitte des 16. Jahrhunderts, also während der Renaissance, Paläste und Villen errichtete. Seine Architektur ist sehr symmetrisch und von Kuben gezeichnet. [4][5]

Abb. 1: Aufgeklappte Isometrie «Kippfigur» der Casa Tonini (Zeichnung: Fabio Reinhart)

Die formalen Bezüge können in den Grundrissen erkannt werden, denn beide Gebäude, die Casa Tonini und die Villa Rotonda, sind Zentralbauten und haben eine Oberlichtachse (siehe Abb. 2). Doch wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass Reichlin und Reinhard eine Bedeutungsänderung erzeugt haben durch Kontrast-Ästhetik, also durch das bewusste Ausspielen von Gegensätzen. Das einzig Monumentale an dem Gebäude ist der grosse Bogen, der «Frontspitz», welcher aber im Vergleich zu Palladio zum Tessiner Tal und zu den Glockentürmen des «Val Capriasca» ragt, anstelle des Haupteingangs (siehe Abb. 3). Dazu kommt, dass der Frontspitz in Wirklichkeit der verkleidete Schornstein und der Rauchabzug des Gebäudes ist. [6][7]

Abb. 2: Vergleich: Villa Rotonda (links) und Casa Tonini (rechts) (Holzschnitt: Unbekannt, Zeichnung: Fabio Reinhart)

Abb. 3: Casa Tonini: Talseite (links) und Bergseite (rechts) (Foto: Nicolas Monkewitz)

Im Inneren der Casa Tonini sind alle Baumaterialien, wie das Stahlbetonskelett oder auch die Drahtgitter-Brüstung erkennbar, was dem Haus einen industriellen Charakter verleiht. Die Statik des Dachs wird ebenfalls nicht versteckt, sondern gewollt gezeigt, denn vom Erdgeschoss kann durch einen Luftraum direkt an die Decke gesehen werden (siehe Abb. 4). Markante braun-weiss karierte Fliessen zieren den zentralen Boden des Erdgeschoss, welches das «Herz des Hauses» darstellt (siehe Abb. 5). Das Zentrum des Erdgeschosses, also das Herz des Hauses wird als geteilte und familiäre Zone angesehen, wobei die Ecken des Erdgeschosses sowie des ersten Stocks zu den privaten Räumen zählen. [8][9]

Abb. 4: Decke der Casa Tonini (Foto: Unbekannt)

Abb. 5: Casa Tonini: Herz des Hauses (links) und Symmetrie im OG (rechts) (Fotos: Heinrich Helfenstein)

Der offene Grundriss wurde damals wie auch heute als modern angesehen, wobei die Symmetrie und der palladische Zentralismus als Zwangsordnung angesehen werden. Henrike und Tom Schoper sagten 2015, dass die Grundrissgeometrie der Casa Tonini […] die Basis der Architektur selbst sei. Die Tendenza der Tessiner Architektur wurde durch den Bau der Casa Tonini zur internationalen Bekanntheit und das Gebäude wird bis heute als Zeichen der Postmoderne und des radikalen Umdenkens angesehen. [10][11]

Reichlin und Reinhart wurden als nicht nur planende und bauende Architekten, sondern als ebenso Denkende und Forschende der Architekturtheorie angesehen. Im November 2017 erhielten Fabio Reinhard und Bruno Reichlin das Ehrendoktorat der ETH Zürich für ihre ausserordentlichen Leistungen (siehe Abb. 6). Beide zählen zu den wichtigsten helvetischen Architekten des ausgehenden 20. Jahrhunderts. [12][13][14]

Abb. 6: Fabio Reinhart (79) (links) und Bruno Reichlin (80) (rechts): Verleihung des Ehrendoktorat 2017 (Foto: Giulia Marthaler)

Endnoten

[1] Archiform.net, 2021

[2] Stadler, 2015

[3] Hollenstein, 2008

[4] Boga, 1986, S.33

[5] Ruhl, 2010

[6] Boga, 1986, S.33

[7] Boga, 1986, S.62

[8] Boga, 1986, S.33

[9] Boga, 1986, S.62

[10] Schoper, 2015, S.43ff.

[11] Schoper, 2015

[12] Boga, 1986, S.33

[13] Schoper, 2015, S.43ff.

[14] Schmidiger, 2017

 

Literaturverzeichnis

Boga, Thomas: Tessiner Architekten, Bauten und Entwürfe 1960-1985. Schweiz: Publisher, 1986.

Fabio Reinhart Architekt: archINFORM. 2021. Aufgerufen von https://deu.archinform.net/arch/1499.htm (20.06.2021).

Hollenstein, Roman: Formen der Erinnerung. In: Neue Zürcher Zeitung, 17.03.2008. Aufgerufen von https://www.nzz.ch/formen_der_erinnerung-1.690576?reduced=true (20.06.2021).

Ruhl, Carsten: Der Palladianismus. Von der italienischen Villa zur internationalen Architektur. 03.12.2010. Aufgerufen von http://ieg-ego.eu/de/threads/europa-unterwegs/kavalierstour-bildungsreise-grand-tour/carsten-ruhl-der-palladianismus (12.07.2021).

Schoper, Henrike & Schoper, Tom: Idealismus und Realismus. In: Werk, Bauen + Wohnen, 6/2015, S.43-47. Aufgerufen von https://www.e-periodica.ch/cntmng?type=pdf&pid=wbw-004:2015:102::1046 (05.07.2021).

Schoper, Henrike & Schoper, Tom: Idealismus und Realismus. In: Werk, Bauen + Wohnen, 6/2015. Aufgerufen von https://www.wbw.ch/de/heft/archiv/2015-6-die-villa.html (20.06.2021).

Schmiediger, Cyrill: Einflussreiche Denker. In: archithese, 24.11.2017. Aufgerufen von https://archithese.ch/ansicht/einflussreiche-denker.html (05.07.2021).

Stadler, Laurent: Die Nachkriegszeit im Gespräch: Bruno Reichlin. 07.05.2015. Aufgerufen von https://stalder.arch.ethz.ch/videoarchiv/die-nachkriegszeit-im-gespraech-bruno-reichlin-07052015 (20.06.2021).

 

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Schoper, Henrike & Schoper, Tom: Idealismus und Realismus. In: Werk, Bauen + Wohnen, 6/2015, S.46. Aufgerufen von https://www.e-periodica.ch/cntmng?type=pdf&pid=wbw-004:2015:102::1046 (05.07.2021).

Abb. 2: (links) Anonym, […]: Hamburger Kunsthalle. Aufgerufen von https://www.hamburger-kunsthalle.de/sammlung-online/anonym-andrea-di-piero-della-gondola-genannt-palladio-bartolomeo-carampello-31# (20.06.2021).

(rechts) Boga, Thomas: Tessiner Architekten, Bauten und Entwürfe 1960-1985. Schweiz: Publisher, 1986. S. 63.

Abb. 3: Fitzenwalden, Elara: Casa Tonini [Blog]. 29.06.2001. Aufgerufen von https://elarafritzenwalden.tumblr.com/post/622287830098526211/casa-tonini-torricella-ticino-switzerland (20.06.2021).

Abb. 4: Boga, Thomas: Tessiner Architekten, Bauten und Entwürfe 1960-1985. Schweiz: Publisher, 1986. S.63.

Abb. 5: Schoper, Henrike & Schoper, Tom: Idealismus und Realismus. In: Werk, Bauen + Wohnen, 6/2015, S.44. Aufgerufen von https://www.e-periodica.ch/cntmng?type=pdf&pid=wbw-004:2015:102::1046 (05.07.2021).

Abb. 6 Schmiediger, Cyrill: Einflussreiche Denker. In: archithese, 24.11.2017. Aufgerufen von https://archithese.ch/ansicht/einflussreiche-denker.html (05.07.2021).