Ab den 1960er-Jahren setzen Aurelio Galfetti, Luigi Snozzi, Livio Vacchini und bald auch Mario Botta mit harten Betongebäuden im amorphen Häuserbrei des Tessins auffällige Zeichen. Dank der Zürcher Ausstellung «Tendenzen – Neue Architektur im Tessin» erlangen die jungen Tessiner Architekten 1975 fast über Nacht internationale Anerkennung für ihr Schaffen.

Die 1960er Jahre sind auch in der Schweiz geprägt vom kritischen Hinterfragen der gesellschaftlichen Normen. Im Zusammenhang mit der Studentenrevolte und den bildreichen Berichtserstattungen über den Vietnamkrieg, kommt es in der Gesellschaft zu einem Umdenken, das nach und nach auch die Architektur erfasst. Im Tessin formt sich eine neue politische Allianz aus jungen Architekten, die mit ihren Werken politischen Fragen Ausdruck verleihen und dem Betrachter etwas vermitteln will.

Abb.1- Mario Botta: Banio Pubblico Bellinzona (1967)

Als Mittel wird vor allem die Form verwendet. Ziel ist es jede Intervention mit übergeordneten Inhalten thematisch aufzuladen. Durch die einfach erkennbare Typologie lassen sich Bauten der Tendenza oft als Kommentare zu den von der Konsumgesellschaft herbeigeführten Missständen lesen. [1]

Alle Bauwerke haben eines gemeinsam, dem Entwurf ist immer ein eingehendes Studium des Ortes vorausgegangen. [2]

Die ersten Bauten waren noch geprägt von den Ideen des späten Le Corbusier, gefolgt von Louis Kahn und Carlo Scarpa. Wichtige Bauten dieser Zeit sind das Freibad in Bellinzona, die Schule in Riva San Vitale und der Entwurf für die ETH Lausanne.

Abb.3- Mario Botta, Tita Carloni, Aurelio Galfetti, Flora Ruchat, Luigi Snozzi: Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne-Dorigny, Wettbewerbsprojekt (1970)

Abb.2 – Aurelio Galfetti, Flora Ruchat, Ivo Trümpy: Schule in Riva San Vitale, Lugano-Bedano (1962-1968)

 

 

 

 

 

 

 

Nach 1970 werden von Botta, Galfetti und Vacchini zeitgleich diverse Bildungsbauten realisiert. Weil sich die Bauwettbewerbe in der Blütezeit der Tendenza auf Erziehungsbauten konzentriert bleibt die Frage des sozialen Wohnungsbaus im Tessin unbeantwortet.

Abb.5 – Aurelio Galfetti: Kindergarten, Bedrano (1971)

Abb. 4 – Mario Botta: Scuola media, Morbio Inferiore (1977)

 

 

 

 

 

 

 

Ab 1980 kommen Aufträge aus der Privatwirtschaft hinzu. Vor allem Banken reissen sich in ihrem Repräsentationsbedürfnis um die Vertreter der Tendenza. Alle wollen sie diese Gebäude von dauerhafter baukünstlerischer Qualität. Vor allem Botta ist erfolgreich im Einsatz seiner Architektur für die Zwecke der Cooporate Identity.  Seine ursprünglich abstrakte, spröde Formsprache weicht einer urbanen Opulenz.

Die Tessiner Tendenza, welche als Arbeitsgemeinschaft und gemeinsame Front entstand zerfällt in den 80er Jahren zu einem Einzelkämpfertum, da jeder Vertreter seinen eigenen persönlichen Stil verfolgen will. Abgesehen von Botta und Campi verfolgen die meisten ausschliesslich Bauprojekte im Tessin.

Abb.6 – Mario Botta: Banca BSI (ex Banca del Gottardo), Lugano (1982-1988)

Abb.7 – Mario Botta: UBS/ BIZ, Basel (1986-1994)

 

 

Der Magnetismus des Tessins lebt vom politisch-kulturelle Engagement der Vertreter, allen voran Luigi Snozzi, der zwischen Praxis, Debatte und Lehre neue Wege der Verknüpfung aufzeigte und gleichzeitig der notwenigen Kritik am Kapitalismus nicht schuldig blieb. «Kein Architekt hat meine Architekturgeneration mehr geprägt als Luigi Snozzi.» sagt Claus Niederberger, ein Architekturstudent jener Zeit und Liebhaber der Tendenza. [3] Die Ausstellung Steinmanns an der ETH glich 1975 für viele Studenten einer Initialzündung. Die Ausstellung war anders, neu und bilderreich. [4]

Abb.8 – Martin Steinmann: Ausstellung an der ETH Zürich «Tendenzen – Neue Architektur im Tessin» (1975)

Die Tendenza besagt, dass gute Architektur nur durch gleichzeitiges politisches Engagement entstehen kann. Ging es bei dieser Architektur für Architekten anfangs um Denkmodelle, so stand bald schon das Bauen im Mittelpunkt. Das ist bis heute so geblieben. Kümmert sich doch die neuste Architektengeneration weniger um die Ethik und den Widerstand von einst als vielmehr um das Realisieren von Bauten, deren bildhafte Fassaden Stimmung und Atmosphäre vermitteln wollen. [5]

Geblieben ist, dass die Landschaft die Basis des Entwurfs und den intellektuellen Rahmen bildet. Auch heute ist einer von Snozzis Aphorismen der Leitfaden für junge Architekten. «Es gibt nichts zu erfinden, alles ist wieder zu finden.» [6]

 

[1]    Bideau, 1997

[2]   Pessina, 2014

[3]   Mehr, et al., 2005

[4]   Mehr, et al., 2005

[5]   Hollenstein, 2006

[6]   Bideau, 1997

 

Literaturverzeichnis

Bideau, André. Tessiner und andere Tendenzen. In: Werk, Bauen + Wohnen, 1997, Bd. 84, S. 22-36.

Mehr, Ursula, Pilotto, Pino und Germann, Max. Tendenza: Engagement oder Dekoration? In: Karton : Architektur im Alltag der Zentralschweiz, 2005, Heft 4.

Pessina, Luca. Im Geiste der Tendenza. In: Werk, Bauen + Wohnen, 2014, Bd. 101, Heft 10.

Steinmann, Martin. Eine eigene Natürlichkeit : der Tendenza-Erfinder Steinmann erklärt ein Schulhaus im Tessin. In: Hochparterre : Zeitschrift für Architektur und Design, 2011, Heft 1-2, Bd. 24.

Hollenstien, Roman. Verstand und Gefühl. In: Neue Zürcher Zeitung, 29. Juli 2006.

 

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1:   Botta, Mario: Bagno Pubblico, Bellinzona (1967)

Abb. 2:   Galfetti, Aurelio; Ruchat, Flora; Trümpy, Ivo: Schule in riva San Vitale, Lugano-Bedano (1962-1968)

Abb. 3:  Botta, Mario; Carloni, Tita; Galfetti, Aurelio; Ruchat, Flora; Snozzi, Luigi: Eidgenössisch Technische Hochschule Lasanne-Dorigny, Wettbewerb (1970)

Abb. 4:  Botta, Mario: Scuola media, Morbio Inferiore (1977)

Abb. 5:  Galfetti, Aurelio: Kindergarten, Bedrano (1971)

Abb. 6:   Botta, Maro: Banca BSI (ex Banca del Gottardo), Lugano (1982-1988)

Abb. 7:   Botta, Mario: UBS/BIZ, Basel (1986-1994)

Abb. 8   Martin Steinmann: Ausstellung an der ETH Zürich «Tendenzen – Neue Architektur im Tessin» (1975)