Was machen die Bilder mit uns?
Artikel von Helmut Dworschak, Der Landbote 6.2.2021, S. 7
Der Filmwissenschaftler und «Landbote»-Kolumnist Johannes Binotto leitet an der Hochschule Luzern ein Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds über Video-Essays. Seine Studierenden sollen eine «Hacker-Mentalität» entwickeln.
Jeder macht sie, jeder verschickt und postet sie: Videos sind allgegenwärtig. Es ist an der Zeit, darüber nachzudenken, was die Bilder mit uns machen, findet Johannes Binotto. Nun leitet er ein Forschungsprojekt, das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) mit 600’000 Franken unterstützt wird. Darin untersucht der 43-jährige Winterthurer Kulturwissenschaftler und «Landbote»-Kolumnist («Lomo») das Genre des Video-Essays: Solche Filme zeigen ein Phänomen, ohne es abschliessend zu erklären. Das Ziel sei vielmehr, neue Ideen anzuregen, sagt Binotto. Video-Essays bewegen sich zwischen Experimental- und Dokumentarfilm.
Das Projekt dient der Nachwuchsförderung. Mit dem Geld werden drei Jahre lang drei Stellen sowie Tagungen und Workshops finanziert. Binotto selbst bekommt vom SNF kein Geld. Er hat an der Hochschule Luzern ein 70-Prozent-Pensum für Film- und Medientheorie und lehrt an der Universität Zürich englische und amerikanische Literaturwissenschaft.
Seine Videos sind auf der Website des Forschungsprojekts abrufbar. Sie setzen sich unter anderem mit Filmsequenzen von Hitchcock auseinander und sind auf der Plattform Vimeo frei zugänglich. Da findet sich auch ein raffiniertes «Katzenvideo» namens «Follow the Cat».
Internationales Team
Drei Jahre lang kann Binotto zusammen mit seinem internationalen Forscherteam die Möglichkeiten des Video-Essays in Forschung und Lehre ausloten. Mit dabei ist Chloé Galibert-Laîné, laut Binotto ein «regelrechter Star der Szene». Sie lehrt an der Pariser École normale supérieure, der Kaderschmiede Frankreichs, und an der Hochschule Luzern. Mit Kevin B. Lee (Stuttgart) und Catherine Grant (London) konnten zudem eigentliche Koryphäen des Video-Essays als Partner gewonnen werden.
In ihrem halbstündigen Video-Essay «Watching the Pain of Others» erzählt Galibert-Laîné von ihren Erfahrungen mit einem Dokumentarfilm. Darin schildern Frauen, die an einer mysteriösen Hautkrankheit leiden, ihre Geschichte. Der Essay hat eine unheimliche Seite: Die Krankheit, für die die Wissenschaft keine Erklärung findet, scheint sich über das Internet zu verbreiten, und während der Arbeit beobachtet die Forscherin Symptome am eigenen Körper. Filme, so die Botschaft, sind nicht bloss eine harmlose Abfolge von Bildern, sie haben eine körperliche Wirkung.
Filme über Filme
Das Genre des Video-Essays kommt zwar aus dem akademischen Bereich. Zu den Begründern zählen aber auch Filmemacher wie Harun Farocki und Jean-Luc Godard. Godard habe einmal gesagt, der beste Text über einen Film müsse eigentlich selbst ein Film sein, weiss Binotto. Tatsächlich sind Video-Essays ein hervorragendes Medium, um Klassiker der Filmgeschichte zu analysieren oder damit eigene Gedankennetze zu spinnen: Filmszenen lassen sich in den Essay hineinmontieren und müssen nicht umständlich beschrieben werden. Im direkten Zitat bleibt die emotionale Kraft der Bilder erhalten.
Tatsächlich sind Video-Essays oft Filme über Filme. In seinem Videoessay «The Age of Emptiness» etwa verwertet der ebenfalls zu Binottos Team gehörende Filmkritiker und Animationsfilmer Oswald Iten Material aus einem Historienfilm von Martin Scorsese. Die Verwendung von Filmsequenzen, sogenanntem Footage-Material, ist aber noch nicht die eigentliche Pointe beim Video-Essay. Er leistet mehr als die Illustration von Gedanken, er ist selbst ein Film und nähert sich damit der Kunst. Für Binotto ist das Kino sogar eine neue Form des Denkens.
«Probiert es aus!»
Kurze Vorgänge lassen sich dehnen, lange Zeitspannen lassen sich extrem verkürzen, man kann Filme rückwärts abspielen, und Dinge, die gleichzeitig oder zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten stattfinden, können synchron nebeneinandergestellt werden. Der Film habe eine neue Erfahrung der Zeit hervorgebracht, sagt Binotto. Es gibt im Grunde nichts, das für immer vorbei ist – in den Bildern bleibt alles gegenwärtig. Hier tritt eine Eigenschaft des Mediums Film zutage, die in der Psychoanalyse dem Unbewussten zugeschrieben wird.
Der Video-Essay ist eine neue Form wissenschaftlichen Arbeitens. Selbstverständlich können die Studierenden bei Binotto ihre Seminararbeiten auch als Video-Essay einreichen. Auf das Selbermachen legt Binotto sowieso grossen Wert: «Ihr könnt es im Fall ausprobieren!», ruft er den Studierenden zu und hofft, dass diese mit der Zeit eine «Hacker-Mentalität» entwickeln.
Innovative Videos gibt es nicht nur an der Hochschule, das Internet ist voll davon. Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass heute jeder und jede Filme herstellen kann. Binotto möchte deshalb den mündigen Umgang mit den Bildern fördern: Wer über das, was er sieht, reflektieren kann, ist der Bilderflut nicht passiv ausgeliefert.
Bastler-Mentalität
Binotto bezeichnet sich selbst als Bastler. Schon als Jugendlicher habe er Fernsehbilder abfotografiert und neu zusammengesetzt, erinnert er sich. Die Bastler-Mentalität hat er bis heute bewahrt. Das ist nicht abwertend gemeint, im Gegenteil. Denn basteln heisst, in scheinbar vertrautem Material ganz neue Möglichkeiten zu entdecken.
Zwei seiner 2020 entstandenen Video-Essays verwenden Ausschnitte aus den Hitchcock-Klassikern «Vertigo» und «The Rear Window». Im einen löst Binotto die Frauenfigur in einem Feld farbiger Pixel auf und macht so auf die Fetischisierung des weiblichen Körpers aufmerksam. Im anderen Essay, der oben schon erwähnt wurde, folgt er dem Gang einer Katze, die eine Treppe hochsteigt. Und kommt zum Schluss, dass der Voyeur, der im Zentrum von Hitchcocks Film steht, nicht aus freiem Willen handelt, sondern von einer ihm fremden Macht gelenkt wird. Das sind Thesen, die wir im Alltag an uns selbst überprüfen können. Vielleicht empfinden wir dann das Gewohnte mit einem Mal als unheimlich. Binotto würde es freuen.
Die Leute in Binottos Team stammen aus verschiedenen Disziplinen und beschränken sich nicht auf ein akademisches Fachgebiet. Dafür Geld vom SNF zu bekommen, wäre wohl vor wenigen Jahren noch unwahrscheinlich gewesen, glaubt Binotto. Zwar werde immer wieder gefordert, interdisziplinär zu forschen, doch letztlich würden die Gutachter genau das dann suspekt finden und vermuten, dass die Forscher in keinem Fach richtig zu Hause seien. In diesem Fall war es nun anders. Die vier Gutachter strichen die Vielfalt als Qualität heraus.