Die geschichtlichen Sprünge mit den Füssen erleben in den italienischen Meeralpen und das wechselhafte Schicksal des italienisch-französischen Grenzgebietes am Mittelmeer bildhaft und landschaftfüllend erleben? Dies bietet sich wanderfreudigen Neugierigen mit einer Fernwanderung vom Piemont bis zum Meer. Als Seitenzweig einer Wanderroute, die von der Schweizer Grenze entlang des Alpenbogens bis nach Ligurien führt, wurde vor Jahren von verschiedenen Initiativgruppen in Italien eine neue Möglichkeit geschaffen, sich verändernde Landschaften, alte Kulturen, militärstrategische Bauten, alte und aktuelle alpine Lebensformen und anderes mehr von Nord bis Süd zu verfolgen. Dieser grossartige alpine Weg nennt sich ‘Grande Traversata delle Alpi’, kurz GTA. Er bietet eine angepasste Form eines sanften Tourismus, der den abgelegenen Orten neue Kommunikation und Lebensmöglichkeiten verschafft. Der Weg ist gesäumt von vielen abgelegenen Unterkünften und ortsintegrierten Herbergen für einsgesamt über 60 Etappen!
Anhand der einwöchigen Überschreitung der ligurischen Alpen soll eine Gegend für kulturell Interessierte schmackhaft gemacht werden, er bietet auf diesem Abschnitt mehrere Klimazonen, vom Hochgebirge bis zu den fruchtbaren Ebenen hinter der Küste. Der Weg ist meist angenehm zu bewandern, oft aber auch streng und an gewissen Stellen ausgesetzt. Diese Tatsache erfordert es, dass man sich gut vorbereitet.
Als Ausgangspunkt mit einer Anfahrtsmöglichkeit per ÖV wurde das piemontesische Städtchen Ormea gewählt, von wo in leichter Wanderung durch viel Wald die erste Etappe auf dem Pass Colle die Nava erreicht wird. Der Ort ist eine verlassene Feriensiedlung, die einst für ein kleines Skigebiet in der Nähe errichtet wurde. Mit dem Klimawandel erlosch die Möglichkeit zum Skifahren und für die Umstellung auf einen kühlen Sommertourismus war die Zeit wohl noch nicht reif. Heute säumen ehemals vornehme Villen, verlassene Hotels und verfallene Ferienlager-Infrastrukturen die Strasse über den Pass. Was für eine verpasste Möglichkeit! Nur eine rührige Teigwarenmanufaktur behauptet sich erfolgreich. Der weiterführende Weg folgt erstaunlich gut ausgebauten Kretenwegen. Der Grund dafür wird uns noch oft verfolgen in den nächsten Tagen: alte Militäranlagen. Über Jahrhunderte und bis zum Ende des 2. Weltkrieges war das Gebiet in europäische Konflikte mit Frankreich verstrickt, die Grenzen wechselten mit jeder Epoche und den damit verbundenen Kriegen.
Den zweiten Etappenhalt bietet das typische Bergdorf Mendatica an, in einer Unterkunft mit Küche im Rifugio eines lokalen Alpenclubs. Der steile Hauptweg durch’s Dorf und das Ortsmuseum bieten einen nachdenklichen Einblick in den Hausbau und die prekären Lebenssituationen vergangener Jahrzehnte. Dank Aufbauhilfen und Rückkehrern wurde das Dorf wieder lebendiger, die alten Bewohnerinnen und Bewohner erzählen gerne von ihrem mühseligen Leben früher.
Weiter geht es in strengem Aufstieg, die Ausblicke öffnen sich, wir befinden uns auf der Wasserscheide zwischen dem Po und dem ligurischen Meer. Mit der Annäherung zum höchsten Berg Liguriens, dem Monte Saccarello, befinden wir uns auf einem Dreiländereck mit weiten Blicken nach Norden ins Piemont, im Süden über das hügelige bewaldete Hinterland Liguriens und gegen Westen nach Frankreich ins Tendatal und in die Südalpen. Die Ausblicke sind grandios.
Zur Übernachtung an diesem Kreuzpunkt haben wir für einmal eine Bandbreite von Übernachtungsmöglichkeiten auf der GTA: Ein kleines unbewartetes Biwak mit knappen Wasservorräten und ein neues 3-Sterne-Refugio. Sie haben die Wahl.
Von nun an ging’s bergab – Richtung Meer. Der Weitwanderweg folgt lange abfallend der Grenzkrete, zum Teil auf Militärstrasse und entlang von Befestigungsanlagen verschiedener Epochen. Die Sicht bleibt vielfältig, die Gegend wird deshalb auch Balcone Mediterraneo genannt. Im völlig verwaldeten Gebirge bewundert man aus der Ferne verlassene Dörfer, verzweifelt an Felsen geklammert. An diesen Orten sind die Kühe, Schafe, Ziegen leider verschwunden, die jahrhundertealte Tradition der 3-Stufen-Wirtschaft (auch Transhumanz genannt) ist extrem anstrengend. Der Druck, wegen Überbevölkerung und Hunger immer weiter in die Bergtäler zu flüchten, ist gewichen. Dabei ist es nicht so lange her, dass die Bewohnenden der südlichen Alpen noch kreativ neue Erwerbsmöglichkeiten erfanden. In einem Tal gab es Betriebe, die Damenperücken herstellten, die Frauen der Täler schnitten sich dazu aus der Not ihre langen Haare und verkauften sie. In andern Bergdörfern gibt es bis heute eine Produktion von eingelegten Sardellen! Die Fische werden auf langen Wegen vom Meer hergeführt, im Dorf verarbeitet, sorgfältig in Gläser eingelegt und auf den Märkten der grossen Städte verkauft.
Schon nahe dem Meer eine letzte Übernachtung in einem sehr traditionellen, gemütlichen, extra für die GTA gebauten Rifugio, Wanderfreudige aus vielen Ländern erfreuen sich am Abend an dem überraschenden 3-Gang-Menu, man rückt zusammen, mit Wein und Bier ist nach den langen Märschen das Mitteilungsbedürfnis gross. Leider sind Unterkünfte aber oft unregelmässig geöffnet, was eine gute Routenplanung erfordert.
Nun, am nächsten Morgen darf man sich auf die letzte Etappe freuen, die in Ventimiglia am Meer enden soll. Mehr oder weniger leichten Schrittes wird die letzten paar hundert Höhenmeter runtergestiegen, bis kurz vor dem Ziel. An prächtiger Lage über der Stadt heisst es hier jedoch, bei der Pilger-Kapelle San Giacomo mit langer wechselvoller Geschichte nochmals innezuhalten, denn …
Ventimiglia bringt schlagartig das pulsierende Leben einer typischen ligurischen Küstenstadt zurück, das ersehnte Bad im Meer belohnt für alle Strapazen und am Strand reflektiert man gerne die lange erlebnisreiche Reise durch Landschaften, Geschichte und Geschichten.
Weitere Links:
- Wikipedia, Grande Traversata delle Alpi: https://de.wikipedia.org/wiki/Grande_Traversata_delle_Alpi
- 2022 Grande Traversata delle Alpi Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=90lrqt_RWUM
Quelle:
- Der Text basiert auf dem Erfahrungsbericht von Urs Reutimann, der die Wanderung Grande Traversata delle Alpi im Juni 2024 gemacht hat.
- Titelbild: Grande Traversata delle Alpi; Copyright by Urs Reutimann.
- Bildquelle: Alle Bilder unterliegen dem Copyright von Urs Reutimann.