Die Schauspielerin, Sängerin und Drehbuchautorin Paola Cortellesi gibt im Alter von 50 Jahren mit ihrem Debütfilm C’è ancora domani ihr Regiedebüt. Ein echtes Phänomen. In Italien war er ein Blockbuster mit rund 5.5 Millionen Zuschauern und übertraf damit in der Saison 2023-24 die berühmten Barbie und Oppenheimer. Es ist der erfolgreichste Film, den eine italienische Regisseurin je gedreht hat, und er wurde in der ganzen Welt gezeigt.
Man fragt sich, warum C’è ancora domani so erfolgreich ist . Der Film spielt 1946 im verarmten Nachkriegsitalien und ist in Schwarz-Weiss gedreht, im Stil des italienischen Neorealismus jener Zeit. Und doch ist es ein sehr moderner und zeitgenössischer Film, dank der Wahl des zentralen Themas: patriarchale Gesellschaft und geschlechtsspezifische Gewalt. Eine Erzählung der Befreiung, die der Sensibilität des heutigen Publikums sehr entgegenkommt.
Der Film schildert das tägliche Leben und den Überlebenskampf einer einfachen Familie in einem Arbeiterviertel in dem vom Krieg verwüsteten und von den alliierten Truppen kontrollierten Rom. Delia, die von Paola Cortellesi selbst gespielt wird, und ihr Mann Ivano leben im Subparterre eines Hauses mit ihrer pubertierenden Tochter Marcella, ihren beiden kleinen Kindern und Ivanos Vater. Delia führt das Haus, kümmert sich um die Betreuung und Erziehung der Kinder, pflegt ihren Schwiegervater, der bettlägerig ist, und erledigt nebenbei „Gelegenheitsarbeiten“, um Lebensmittel nach Hause bringen zu können und zusätzliche Ausgaben zu decken. Ivano ist der Herr des Hauses und hat keine anderen Pflichten als zur Arbeit zu gehen, „um die Familie zu ernähren“ und … sonst nichts. Alles andere sind Rechte. Das Recht, Delia körperliche und seelische Gewalt anzutun, sie zu beleidigen und zu demütigen; das Recht, respektiert und bedient zu werden. Diese Haltung wird durch die Worte seines Vaters untermauert, für den Delia eine gute Frau ist, die aber „redet“ und die weniger, dafür aber härter geschlagen werden muss, damit sie lernt und sich nicht an „die kleinen Schläge“ gewöhnt. Die ganze Nachbarschaft weiss um Delias Situation, aber alle schweigen.
Glücklicherweise ist Cortellesi, die in Italien durch ihre Karriere als Comedian bekannt wurde, eine würdige Nachfolgerin der besten Tradition der italienischen Komödie und verzettelt sich nicht in der Geschichte von Leid, Opfern und geschlechtsspezifischer Gewalt. Im Gegenteil, sie behandelt das Thema der häuslichen Gewalt mit ironischem Humor, manchmal mit poetischen, manchmal mit grotesken Zügen. Es ist ihr Markenzeichen und ihr eigener Stil, die Sprache der Komödie zu verwenden, um ernste Themen zu behandeln. Mit Cortellesis Worten: „Ich habe das Gefühl, dass man mit Humor an diese Themen herangehen kann. Man weiss, dass die Leute hoffentlich mitfühlen und sich auf die Seite der Heldin stellen, ohne dass ich eine konfrontative Sprache verwenden muss“. Und die Formel funktioniert, man denke nur an den Erfolg und die Wirkung von C’è ancora domani im In- und Ausland, die zum Teil auf Mundpropaganda zurückzuführen ist.
Die Wahl des Jahres 1946, in dem die Handlung spielt, ist weder zufällig noch trivial. Der 2. Juni jenes Jahres ist ein Schlüsseldatum in der Geschichte Italiens. Denn zum ersten Mal hatten die Frauen das Stimmrecht und dies beim Referendum zur Gründung der Republik oder zur Beibehaltung der Monarchie. So stimmen Cortellesi bzw. unsere Heldin Delia am Ende des Films in einen Schrei der individuellen und kollektiven Befreiung ein: Frauen haben von nun an eine eigene Stimme und eine vielversprechende Zukunft tut sich vor ihren Augen auf.
Laut Cortellesi war ihre eigene 11-jährige Tochter die Inspiration für diesen Film: „Das ganze Projekt entstand, weil ich ihr ein Buch über die Rechte der Frauen vorlas und meine Tochter nicht glauben konnte, dass es eine Zeit gab, in der unsere Rechte nicht gesetzlich verankert waren. Da kam mir der Gedanke, dass wir mit der jüngeren Generation sprechen müssen, die erkennen muss, dass ihre Rechte eine Errungenschaft sind“.
Sie fügt hinzu, dass das Thema häusliche Gewalt nicht mit der Absicht behandelt wurde, Männer als Täter herauszustellen und sie von dem Film zu distanzieren, sondern dass „es eine Einladung ist, zu teilen und gemeinsam den gleichen Weg im Leben zu gehen“. Auch hier hat Cortellesi recht, denn 45 % der Zuschauer in Italien waren Männer.
Man könnte noch viel mehr über den Film erzählen, über die wunderbare Besetzung der Schauspieler und Schauspielerinnen, das Spiel der Blicke, das jedes Bild mit Nuancen füllt, die Musik, die uns von der damaligen Zeit in die Gegenwart versetzt, und so weiter. Kurzum, C’è ancora domani ist ein fantastischer Film, der durch seine Produktion und Originalität besticht und der ein Licht auf eine schreckliche aktuelle Realität wirft, den Femizid-Frauenmord, der in Italien alle 72 Stunden ein Opfer fordert.
Hier finden Sie ein Interview mit Paola Cortellesi und mehrere Links, falls Sie mehr über den Film und das Thema „Femizid“ wissen möchten.
Weitere Links:
- Trailer Morgen ist auch noch ein Tag: https://www.youtube.com/watch?v=sixPA4zb8k0
- NZZ: https://www.nzz.ch/international/italien-ueberraschungserfolg-fuer-kinofilm-ueber-emanzipation-ld.1765410
- Tages Anzeiger: https://www.tagesanzeiger.ch/ce-ancora-domani-italien-liebt-diesen-film-mehr-als-barbie-991451167673
- SRF, Wieso gibt es in der Schweiz soviele Femizide: https://www.srf.ch/play/tv/srf-news-videos/video/wieso-gibt-es-in-der-schweiz-so-viele-femizide?urn=urn:srf:video:e44c9852-7b1a-4b18-bd3f-7b4a843b6495
- Stop Femizid: https://www.stopfemizid.ch/italiano#it1
Quelle:
- Film C´è ancora domani, Stattkino Luzern, Mai 2024.
- BBC News Mundo; (13.08.24); https://www.bbc.com/mundo/articles/cd1d3076d3no
- CLARÍN; (13.08.24); https://www.clarin.com/espectaculos/siempre-manana-cine-mayusculas-trama-patriarcado-violencia-genero_0_AB2B3ONMXU.html?srsltid=AfmBOorMSyGLCdszwegsJEfg8tvMtFqh2B8aJbZTCzJFjUsF2gUIKC8Z
- Wikipedia; (13.08.24); https://es.wikipedia.org/wiki/Siempre_nos_quedar%C3%A1_ma%C3%B1ana
- Titelbild: C´e ancora domani Filmplakat, aus Kulanz des Morandini Filmverleihs.