Soziokultur

Ein Doyen der Soziokultur ist an Corona gestorben ll

Ein Doyen der Soziokultur ist an Corona gestorben ll

Im vergangenen November ist Jean-Claude Gillet, der Doyen der Soziokulturellen Animation, infolge einer Corona-Infektion gestorben. Wir haben im Soziokultur-Blog Erinnerungen an Begegnungen mit Jean-Claude Gillet und mit seinem Werk zusammengetragen (Link zum Blog). In Ergänzung zu diesem Beitrag möchten wir hier den Nachruf von Prof. Dr. Jean-Pierre Augustin publizieren. Jean-Pierre Augustin, emeritierter Professor der Universität von Bordeaux, war ein enger Weggefährte von Jean-Claude Gillet. An der Beerdigung in Bayonne am 27. November 2020 hat er diese Rede gehalten, die wir mit seiner Erlaubnis für unsere Soziokultur Blogleser*innen übersetzt haben. Die Rede gibt einen fundierten Einblick in das Schaffen von Jean-Claude Gillet und zeigt seine Haltungen und politischen Überzeugungen eindrücklich auf. Die Rede zeigt das Zusammenspiel von praktischem, engagiertem Handeln und kritischer Theoriebildung in Jean-Claude Gillets Leben und Werk, welches die Soziokulturelle Animation so entscheidend mitgestaltet. Diese Wirkung bleibt der Soziokulturellen Animation auch über Jean-Claude Gillets Tod hinaus erhalten.


Jean-Claude Gillet, ein Akademiker und engagierter Forscher

Ich habe Jean-Claude Gillet Mitte der 1980er Jahre kennengelernt. Er war Lehrer am Regionalen Institut für Soziale Arbeit in Talence, wollte diese Institution aber verlassen, um eine akademische Karriere zu verfolgen. 1990 wurde er Teilzeitdozent an der IUT Michel de Montaigne (in Bordeaux) und begann mit der Arbeit an einer Dissertation über die Bedeutung der Animation in der heutigen Gesellschaft, die er 1994 glänzend verteidigte. Zum Dozenten und später zum Universitätsprofessor ernannt, schlug er in seinen Vorlesungen und seinen zahlreichen Schriften eine Theorie der Animation vor, die auf dem Konzept der strategischen Intelligenz der Akteure basierte und als Grundlage für die «Bordeaux School of Animation» diente. Nachdem er an viele ausländische Universitäten eingeladen wurde, gründete er 2003 das Internationale Netzwerk der Soziokulturellen Animation (RIA), welches ForscherInnen und PraktikerInnen aus etwa zwanzig Ländern alle zwei Jahre zu einem Kongress einlädt.

Der Theoretiker der strategischen Animation

Jean-Claude Gillet hat ausführlich über die Bedeutung von Moderation, die Rolle von ModeratorInnen und die strategische Intelligenz, die sie erwerben müssen, geschrieben. Für ihn ist der «facilitator» ein Beziehungsmoderator, der in der Lage ist, die Belange eines Vereins, einer Nachbarschaft oder einer lokalen Gemeinschaft zu verstehen und dafür zu sorgen, dass jeder Akteur auf der sozialen Bühne in einer erkennbaren Dynamik mitspielen und entsprechend seiner Interessen und Wünsche handeln kann, in einer Perspektive der Förderung und sozialen Entwicklung. Er wusste, dass die Moderation die bestehenden sozialen Beziehungen nicht stören soll, sondern lediglich dafür zu sorgen hat, dass eine Regelung an den Rändern, in den Hohlräumen oder Zwischenräumen umgesetzt werden kann, wenn z. B. Situationen der Ausgrenzung oder Ablehnung für die Betroffenen unerträglich werden. Für Jean-Claude Gillet bietet der Rand Einblicke in die Funktionsweise des Zentrums und ermöglicht so eine unerwartete soziale Dynamik. Er sagte oft, dass der «facilitator» an der Kreuzung mehrerer verschiedener Logiken steht, deren Verwicklungen nicht leicht zu entwirren sind. Seine Intervention befindet sich an der Schnittstelle einer Pluralität von Akteuren und Strategien und bezieht sich auf die Vielfalt der ihnen zugrunde liegenden Logiken. Für Jean-Claude Gillet ging es darum, durch intellektuelle Arbeit herauszufinden, welche Intervention nötig ist, um eine Dynamik zu erzeugen, die es erlaubt, Umsetzungen gemeinsam zu denken und zu konzeptionalisieren. Es geht darum, einen Dialog mit den Akteuren zu initiieren, ihnen zu helfen, gemeinsame Ziele zu formulieren, um diese umzusetzen.

Die Kluft zwischen den Entscheidungsträgern und den «Entschiedenen», d.h. denjenigen, über die entschieden wird, zu verringern, zwischen den Zwängen der Strukturen und der Suche der Akteure nach Autonomie, ist für Gillet das Ziel der Moderation. In der Suche nach alternativen und effektiven Lösungen finden die ModeratorInnen ihre Aufgabe und Daseinsberechtigung. Es ist die strategische Kompetenz, die im Zentrum der beruflichen Identität der ModeratorInnen steht und die es ihnen durch die Kombination verschiedener Fähigkeiten wie dem Verständnis sozialer Spiele, der flexiblen Beherrschung verschiedener kommunikativer Sprachen und Verhaltensformen ermöglicht, einen der wesentlichen Pole ihrer Qualifikation zu entwickeln. Der/die «facilitator» bezieht dann seine/ihre Legitimation aus der Konstruktion seiner/ihrer Verbindungen zwischen verschiedenen Fähigkeiten, die er/sie zur auf das in und durch seine Umgebung gestellte Problem konzentriert. Diese Fähigkeit existiert nur in der Situation, in Interaktionen, Machtverhältnissen und einem gegebenen lokalen und sozio-historischen Kontext. Es ist eine individuelle und kollektive Intelligenz in Situationen, die in ihrer ganzen Komplexität betrachtet werden, was gleichzeitig eine radikale Überwindung der Unterscheidung zwischen Wissen und Know-how bedeutet.

Auf diese Weise könne die «Professionalität» der ModeratorInnen, respektive der Animation, die sich auf den Begriff der Kompetenz konzentriere, entwickelt werden, indem zusammengesetztes und komplexes Wissen mobilisiert werde. Kompetenzen sind transversal, generisch, basieren auf Beziehungs- und Kommunikationseinstellungen, Fähigkeiten in Bezug auf das Selbstbild (Selbstvertrauen, Bewusstsein des eigenen Potenzials), Anpassungs- und Veränderungsfähigkeiten, entsprechend der Vielfalt von Verhaltensweisen, Meinungen, kulturellen und ideologischen Bezügen und deren Repräsentationen in der Gesellschaft.

Für Jean-Claude Gillet kann der/die ModeratorIn zum/zur StrategenIn werden, wenn er/sie in der Lage ist, Gruppen und Organisationen, deren Ausrichtungen und Ziele nicht immer übereinstimmen, dazu zu bringen, zusammenzuarbeiten, um Punkte des Konsenses zu finden und Dissens zu benennen. Er würde dazu raten, wenn die Verhandlungen nicht erfolgreich sind, den Konflikt erneut ins Zentrum zu stellen und ein erneutes Ringen darum zu beginnen.

Der Organisator der «Bordeaux School of Animation»

Jean-Claude Gillet ist nicht nur Lehrer und Theoretiker der strategischen Animation, er übernimmt auch anspruchsvolle und zeitraubende administrative Aufgaben und wird Leiter der Abteilung für soziale Berufe an der IUT Michel de Montaigne und Direktor des von ihm mitbegründeten Institut supérieur d’ingénieurs-animateurs territoriaux (ISIAT). Dieses Institut bietet Post-IUT-Diplome für die Aus- und Weiterbildung an, um AussendienstmitarbeiterInnen Mittel und Wege zum Handeln zu geben. Sie bietet ihnen einen praxeologischen Ansatz, bei dem die klassische Opposition zwischen Theorie und Praxis als eine dialektische Komplementarität zwischen Wissen und Wissen aus dem Handeln wahrgenommen werden muss, um das Hin und Her zwischen Erfahrung, Praxis und Denken zu fördern. Es fördert einen interdisziplinären Dialog über transversale Konzepte wie die von Territorien, Akteuren, Netzwerken, Einrichtungen, Konflikten, Planung und Kultur. Für ihn sollte dieser Dialog es ermöglichen, pädagogische Anpassungen in der Weiterbildung vorzunehmen und die Aktionen von Expertise und Animation selbst zu verbessern. Er vervielfacht die Beziehungen zu den nationalen Behörden, um die Anerkennung der neuen angebotenen Diplome zu gewährleisten und beteiligt sich an der Nationalen Beobachtungsstelle für Animations- und Sportberufe (ONMAS). Um diese Aktionen mit den ArbeiterInnen vor Ort zu verbinden, schuf er den ISIAT-Newsletter, dann die Cahiers de l’ISIAT und war Co-Leiter von zwei Sammlungen von Universitätsarbeiten, eine bei den Presses universitaires de Bordeaux (Le territoire et ses acteurs), die andere bei L’Harmattan (Animation et territoires). So entsteht nach und nach eine «Bordeaux School of Animation», die auf nationaler Ebene für ihre theoretischen Beiträge, ihre Publikationen und ihre jährlichen Symposien anerkannt ist. Jean-Claude Gillet ist der Sprecher dieser Schule. Er reist auf Einladung von Ausbildungszentren, Volksbildungsverbänden und lokalen Behörden durch das gesamte französische Mutterland. Er wird auch in den Überseedepartemente aktiv, vor allem in Französisch-Guayana, Martinique und Guadeloupe. Schliesslich begibt es sich auf eine internationale Reise, die in Kanada beginnt, wo er mehrmals an der Université du Québec à Montréal (UQAM) lehrt.

Der Schöpfer des International Animation Network (IAN)

Jean-Claude Gillet hatte schon immer die ganze Welt und insbesondere die Organisationsformen und Probleme der Entwicklungsländer im Blick. Er interessiert sich besonders für Südamerika und nutzt ein Sabbatical, um sechs dieser Länder zu besuchen und Verbindungen zu UniversitätsleiterInnen in der Ausbildung von Führungskräften und Gemeinschaftsaktionen herzustellen. So wurde in seinem Kopf die Idee geboren, ein internationales Netzwerk der Animation zu schaffen. Er ist sich bewusst, dass Animationspraktiken unter vielen verschiedenen Namen organisiert werden, aber er stellt die Hypothese auf, dass die Begriffe Kulturförderung, Soziale Arbeit oder soziale Dienstleistung, Gemeindeentwicklung, partizipative Demokratie und Volksbildung als zu einem semantischen Feld gehörig betrachtet werden können, das den Begriff der Animation einschliesst.

Er ist sich bewusst, dass diese Praktiken in Geschichten und ideologischen Strömungen mit gegensätzlichen Konturen verwurzelt sind. Er nimmt die Unterschiede zwischen Orientierungen aus der Befreiungstheologie, der Pädagogik der Unterdrückten, ethno-kommunitären Ansätzen, antikapitalistischen Perspektiven und solchen aus dem Bereich der Animation wahr, bleibt aber überzeugt, dass diese Themen in internationalen Kolloquien diskutiert werden sollten. So stellte er sich ein internationales Netzwerk der Animation (RIA) vor, welches im Jahr 2003 mit der Organisation des ersten Kolloquiums in Bordeaux über die Animation in Frankreich und analoge Praktiken im Ausland Gestalt annahm. Theorien, Praktiken und Stand der Forschung stehen im Zentrum. Diesem RIA-Kolloquium, das mehr als 200 Teilnehmer aus 12 Ländern zusammenbrachte, sollten weitere folgen, die, wiederum auf eigene Initiative, alle zwei Jahre in einem anderen Land veranstaltet werden. So folgen die Kolloquien in Sao Paulo (Brasilien) im Jahr 2005, in Luzern (Schweiz) an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit im Jahr 2007, in Montreal (Quebec) im Jahr 2009, in Zaragoza (Spanien) im Jahr 2011, in Paris (Frankreich) im Jahr 2013, in Bogota (Kolumbien) im Jahr 2015, in Algier (Algerien) im Jahr 2017, in Lausanne an der Haute Ecole de la Suisse Orientale (Schweiz) im Jahr 2019 und das für 2022 geplante nächste Treffe in Cayenne in Französisch-Guayana.

Abschliessend möchte ich ihm noch einmal das Wort zu einem seiner Lieblingsthemen erteilen, dem der aktiven Utopien: «Animation ist potenziell erfinderisch, kreativ, phantasievoll und manchmal auch respektlos gegenüber der etablierten Ordnung. In diesem Sinne ist sie eine fruchtbare Unordnung, das heisst, ein Aufruf zu einer anderen Gesellschaftsordnung, die gerechter, demokratischer und auch feierlicher ist. Es liegt an den ModeratorInnen, an den Animatorinnen und Animatoren, auf diese Veränderungen in der Gesellschaft aufmerksam zu machen, darüber informell und formell, institutionell und nicht institutionell zu kommunizieren, Kompromisse zu schliessen, sich auszutauschen, auch wenn dies durch Konflikte erreicht werden kann oder muss. Dies setzt Qualitäten wie Mut und Zähigkeit voraus, gepaart mit der Beherrschung von Fertigkeiten: beides wird, entgegen dem Klischee der Berufung, mit Geduld aufgebaut. Dies ist einer der Gründe, warum die Animation mit einer Utopie verglichen werden kann, die auch zu Beginn des dritten Jahrtausends noch eine vielversprechende Zukunft hat.

Natürlich gibt es immer noch viel Widerstand, um diese soziokulturellen Transformationen zu verhindern oder sie in verfälschenden und entfremdenden Praktiken zu kommodifizieren. Die Animation, die Teil eines Aufrufs zur Befreiung der menschlichen Dynamik und des Strebens nach einer besseren Welt ist, lädt jede und jeden ein, die Lasten der Gegenwart leichter zu machen. Seit fast einem halben Jahrhundert hat sie bewiesen, dass sie nicht nur oder vor allem spekulativ sein kann.

Gleichzeitig muss gesagt werden, dass die Animation in ihren Auswirkungen marginal bleibt, solange die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht in ihrer Tragweite anerkannt und entsprechend ernsthaft angegangen werden: Eine neu zu definierende Demokratie, eine Verringerung der Ungleichheiten, eine aus der Zwangsjacke des ultraliberalen Wirtschafts- und Finanzliberalismus zu befreiende Wirtschaft. Sie ist Teil einer Entschleierung der Legitimität einer Welt, die manchmal auf dem Kopf steht, und sie bietet einen Raum für realistische Imagination. Es handelt sich nicht um eine Bewegung von Phantasten, IllusionistInnen oder TraumhändlerInnen. Sie ist potenziell eine mobilisierende Vermittlung zwischen der umgebenden Realität und einem kritischen Bewusstsein. Ein Geisteszustand ist utopisch, wenn er im Widerspruch zu dem Zustand der Realität steht, in dem er auftritt.

Für die Professionellen der Soziokulturellen Animation ist diese Unstimmigkeit weder eine psychologische Regression (Flucht vor der Realität), noch nostalgisch (Streben nach einer Rückkehr zum mythischen Glück der Vergangenheit), noch politisch (Verweigerung gesellschaftlicher Veränderungen). Die Animation ist ein Ort des kulturellen Experiments, der sich mit den Kontingenzen der realen Geschichte und den Notwendigkeiten der Situation beschäftigt. Der Animateur und die Animatorin werden zu Strategen, zu AkteurInnen der Praxis, ohne Illusionen über die Welt, daher klar, aber ausdauernd in der Hoffnung.»

Vielen Dank, Jean-Claude, für all diese Beiträge und vor allem für dein Charisma und deinen kommunikativen Optimismus. Sie wussten, wie man den Staffelstab weitergibt. Sie sind immer bei uns und werden immer präsent bleiben.

Dieser Artikel wurde am 16. April 2021 auf dem Soziokulturblog veröffentlicht.

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