Soziokultur

Territorien der Soziokultur – Ein Bericht vom neunten Kolloquium des Internationalen Netzwerks der Soziokulturellen Animation

Territorien der Soziokultur – Ein Bericht vom neunten Kolloquium des Internationalen Netzwerks der Soziokulturellen Animation

Auf welchen Territorien spielt Soziokultur eine Rolle? Welche Handlungsräume kann sie eröffnen? Und wie gehen Soziokulturelle Animatorinnen und Animatoren mit den dazugehörenden Machtfragen um? Anlässlich des neunten Kolloquiums des Réseau International de l’Animation (RIA) wurde vom 4. – 6. November 2019 an der Hochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit in Lausanne über aktuelle Themen und Herausforderungen der Soziokulturelle Animation diskutiert. Dabei stand das Konzept des Territoriums im Mittelpunkt der Überlegungen.

Territorien sind multidimensional, sind immer Produkte von Grenzziehungen und gehen mit der Etablierung bestimmter Regeln, Formen der Kontrolle und Bedeutungen einher. Wer ein Territorium kontrolliert, bestimmt auch die sozialen Gegebenheiten, die sich in diesem Gebiet abspielen, und bestimmt, was als Normalität und was als Abweichung gilt.

Einen ersten Eindruck davon, was die Territorialität des Sozialen für Soziokulturelle Animatorinnen und Animatoren bedeuten könnte, gab Jean-Claude Gillet, Ehrenpräsident des Netzwerks und Urgestein der Soziokultur, in seiner Eröffnungsrede: Die Aufgabe der Soziokulturellen Animation sei es, inmitten der stark von Marktkräften beherrschten territorialen Logiken, Extra-Territorialität zu ermöglichen. Es gehe darum, andere gesellschaftliche Orte zu schaffen. An diesen sollen die herrschenden territorialen Kräfte, die gesellschaftliche Handlungsfähigkeiten einschränken, hinterfragt werden können und neue Formen des Sozialen vorstellbar werden. Damit sprach Gillet nicht nur das kreative Potential geteilter Utopien an, sondern konkrete Soziale Innovationen, die es zu ermöglichen gelte. Was das konkret bedeuten könnte, zeigten etliche der rund 90 Präsentationen aus Forschung und Praxis am RIA auf.

Die Logik geographischer Territorien kam beispielsweise auf einem Feldbesuch in der Walliser Gemeinde Monthey zum Vorschein. Dort verbessern die Kulturvermittlung des örtlichen Theaters, die Jugendarbeit und Integrationsarbeit gemeinsam das Zusammenleben im öffentlichen Raum. Sie versuchen Territorialisierungen des öffentlichen Raumes zu verstehen, beziehen dessen Qualitäten samt den zugrundeliegenden Machtbeziehungen in ihre Arbeit ein, ermöglichen Begegnungen und erhöhen das Verständnis für andere Benutzende. Dadurch können sie auch ordnungspolitisch orientierten territorialen Strategien der Gemeinde, wie z.B. der Videoüberwachung öffentlicher Räume, ein Gegengewicht setzen. Dank Soziokultureller Animation und einem Verständnis territorialer Ausgrenzungsprozesse konnte in Monthey auch das ehemals geschlossene Territorium der Psychiatrie in ein Kunstquartier (www.malevozquartierculturel.ch) verwandelt werden. Dieses ist nicht nur eine Bereicherung des lokalen Kulturangebots, sondern für die Patientinnen und Patienten der Klinik eine Öffnung zur «richtigen» Welt.

Territorialen Prozessen Beachtung zu schenken, bedeutet auch, Zusammenhänge zwischen sozialen Beziehungen und dem Etablieren von Bedeutungen vor Augen zu haben. Das zeigt sich auch in der Verhandlung von professionellen Territorien, wie beispielsweise im Workshop-Beitrag von Stephan Kirchschlager, Dozent an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, ersichtlich wurde. In seinem Referat zeigte er auf, wie eine Absolventin unserer Schule sich einen Platz als Soziokulturelle Animatorin in einem Aktivierungsteam eines Altersheimes erarbeiten konnte und dabei auch soziokulturelle Arbeitsweisen und soziokulturellen Jargon im Team verankerte. Dabei erhielt die Soziokulturelle Animation nicht nur in einem neuen Berufsfeld Legitimation, dieser Prozess konstituierte auch die Bedeutung der Soziokulturellen Animation gemäss den mikroterritorialen Logiken der Institution und Prägung der Absolventin neu.

Zur Arbeit mit Territorien gehört schliesslich immer eine Bearbeitung der damit verbundenen sozialen Netzwerke, die Territorien konstituieren. Das zeigte in einem anderen Beispiel das Projekt «Centro Juvenil de Orientación para la Salud (CEJOS)» aus Spanien, welches mit Methoden der Soziokulturellen Animation die sexuelle Gesundheit von Jugendlichen fördert. Dabei sensibilisieren die Animatorinnen und Animatoren nicht nur die Jugendlichen selbst, sondern beziehen auch Eltern, Peergroups und Schulen ein. Schliesslich entsteht die Bedeutung, die Sexualität für die Jugendlichen hat, zu einem gewichtigen Teil in diesen Netzwerken. Auf diese Weise soll an den Orten, an denen sich Jugendliche häufig aufhalten, ein anderer Umgang mit Sexualität vorherrschen.

Und was können nun Soziokulturelle Animatorinnen und Animatoren vom Kolloquium für ihre Berufspraxis mitnehmen? Das sei gar nicht so einfach zu beantworten, sagte Lisa Palak-Otzoup, Soziokulturelle Animatorin aus Zug und eine der wenigen Teilnehmenden aus der Deutschschweiz. Die Gedanken seien im Moment noch im Aufbau. Aber die Idee von Gillet der Extra-Territorialität fände sie spannend, da sie das Ephemere und Imaginative betone. «Vivre ensemble vers l’imaginarie», liest sie aus ihrem Heft voller Notizen vor. «Mettre l’architecture de l’Etat à distance. Dass das Territorium mehrere Ebenen hat, erlaubt eben, die Sicht auf das nur schwer Sichtbare zu lenken. Und in der Soziokulturellen Animation geht es in dem Sinne auch darum, die richtigen Fragen zu stellen – dass auch die, die oben an der Macht sind, die anderen Ebenen des Territoriums sehen.»


von: Dominic Zimmermann

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