Beitrag zum neo.forum «Organisationale Kreativität» vom 10. Juni 2021 –
Autor: D. Wipfli-Hefti (Studierender MAS Wirtschaftsingenieur)
Mahrenholz (2011) beschreibt, dass der Mensch nach Komplexitätsreduktion sucht, indem er die Welt in zwei Aspekte aufteilt: Aspekte, auf die es zu achten gilt und Aspekte, die man vernachlässigen kann (S. 24-25). Potenzielle Kreativität ist das, was das Aufteilen dieser Aspekte zum Schluss als Überschuss freilegt.
Kreativität ist demzufolge nötig und entsteht, wenn Wesentliches von Unwesentlichem getrennt wird. Oft sind Technologien und Kundenwünsche sehr schnelllebig und komplex, die Ressourcen zur Umsetzung von Entwicklungsprojekten jedoch stark begrenzt. Umso wichtiger ist es, die vorhandene Komplexität zu reduzieren, um nur wesentliche Dinge in der Umsetzung zu berücksichtigen. Nach Lewrick, Link und Leifer (2018) sind neue Formen der Zusammenarbeit mit mehr Freiräumen vonnöten, da die heutigen Planungs- und Management-Paradigmen wie «Operational Excellence» oder «Management by Objectives» oftmals nicht ausreichen, um auf Änderungen des Umfeldes angemessen reagieren zu können (S. 10).
«Organisationale Kreativität» soll helfen, in einem stetig komplexer werdenden Umfeld innovative und kundenorientierte Lösungen zu entwerfen. Durch Einfliessen kreativer Ansätze in den Produktentwicklungsprozess einerseits, und durch Aktivieren des kreativen Bewusstseins der Mitarbeiter in der Organisationskultur andererseits soll dies erreicht werden. In diesem Kontext hält Sonnenburg (2007) fest: «Die Aktivierung von kooperativer, aber auch individualer Kreativität in organisationalen Situationsaktionen wird durch Rahmenbedingungen begünstigt» (S. 188).
Sonnenburg (2007) weist darauf hin, dass mit der Absicht, ein gewisses Problem der Organisation zu lösen, sogenannte organisatorische Creaplexe gebildet werden, um die eigene Wissensbasis der Organisation zu erweitern. Organisatorische Creaplexe sind soziale Systeme, welche sich aus Mitarbeitern der eigenen Organisation oder externen Mitarbeitern zusammensetzen. Meist werden Creaplexe einer Stabstelle oder Abteilung zugeordnet, können jedoch auch einen Sonderstatus ausserhalb der typischen Hierarchie haben (S. 209-211). In der Phase der Prototypenkreierung entfaltet sich die Kreativität in einem Creaplex und vergegenständlicht sich in einem Prototyp (S. 193). Damit eine kreative Organisationskultur zur Prototypenkreierung begünstigt werden kann, sind vier Felder zu berücksichtigen: Autonomie, Vertrauen, Flexibilität und Kooperation. Die Mitarbeiter brauchen ein Höchstmass an Autonomie, damit sie experimentieren und den Status quo in Frage stellen können; Mitarbeiter sind eher dazu bereit, Neues zu wagen und Veränderungen zu unterstützen, wenn ein Klima des Vertrauens vorzufinden ist; Flexibilität stellt eine Grundprämisse für kreative Organisationen dar. Durch wenig Normen geprägte Abläufe schaffen Platz für Handlungsspielräume und lassen Kreativitätsfreisetzung zu. Durch eine Kultur der Kooperation kann eine Innovation erfolgreich verwirklicht werden, indem ein funktionsübergreifendes Arbeiten in den Phasen der Produktentwicklung und -einführung gefördert wird (S. 198-199).
Ein Ansatz, welcher auf spezifisch und sehr komplexe Problemstellungen eingeht, indem er versucht, unterschiedliche Systeme einzubinden, um auf Ereignisse agil und zielgerichtet reagieren zu können, nennt sich Design Thinking. In einem Mikrozyklus werden sechs Phasen durchlebt: Verstehen, Beobachten, Standpunkt definieren, Ideen finden, Prototypen entwickeln und testen. Um aus den Handlungen zu lernen, wird der Mikrozyklus oft durch die Phase Reflektieren ergänzt. Während diesen Phasen wird in einem interdisziplinären Team gearbeitet, welches situativ passende Werkzeuge und Methoden verwendet, um Lösungen für ein definiertes Problem zu erarbeiten (Lewrick, Link, & Leifer, 2020, S. 22-24).
Abbildung 1: Design Thinking Mikrozyklus (Lewrick, Link, & Leifer, 2020, S. 24)
Eine Analogie zum Design Thinking Ansatz findet sich auch an der Glarner Landsgemeinde wieder, welche über Verfassung und Gesetzgebung jährlich am ersten Sonntag im Mai durch die stimmberechtigten Bewohner entscheidet (Kanton Glarus, online). Schriftliche Anträge aus dem Volk werden durch den Regierungsrat behandelt (Verstehen, Standpunkt definieren). Die Vorlage wird dem Landrat weitergeleitet, welcher Pro und Contra abwägt (Ideen finden) und eine schriftliche Fassung des Traktandums (Prototyp) mit dem Ratsschreiber verfasst. Am Tage der Landsgemeinde wird das Traktandum gemäss dem Kernsatz «ds Wort isch fri» der Bevölkerung (Test) unterbreitet. Die Innovationskraft dieses Vorgehens kam 2006 zum Ausdruck, als 25 Gemeinden kurzerhand zu drei Einheitsgemeinden fusioniert wurden oder als 2007 das Stimmrechtsalter von 18 auf 16 Jahre gesenkt wurde (Kanton Glarus Landsgemeinde, online).
Ein detaillierter Einblick über den Ablauf der Landsgemeinde wird im Folgenden 16-minütigen Video gegeben.
Das Integrieren dieser Ansätze soll den Organisationen helfen, komplexe Umfeldbedingungen während dem Produktentwicklungsprozess zu berücksichtigen. Doch besteht nicht auch die Gefahr, dass durch zu viel Kreativität das Ziel vor Augen verloren geht?
Grabner und Speckbacher (2018) beschreiben, dass es Managern im Kreativitätsprozess oft schwerfällt, zu erkennen, ob die Richtung stimmt, oder ob steuernd eingegriffen werden soll. Unzählige Beispiele zeugen von kostspieligen Fehlschlägen, bei welchen viel zu spät abgebrochen wurde. Um trotz Fehlschlägen und Unsicherheiten erfolgreich zu sein, bedarf es einer hohen intrinsischen Motivation. Dadurch entsteht ein zusätzlicher Steuerungsbedarf, da die intrinsische Motivation nicht immer im Sinne der Unternehmensziele entspricht. Um Kreativität zu managen und die intrinsische Motivation gleichzeitig fördern zu können, ist ein hohes Mass an Autonomie für die Mitarbeiter unerlässlich. Jedoch sind auch bei Kreativarbeiten Zielsetzungen wichtig. Durch Setzen von Zielen, welche die Mitarbeitenden verstehen, wird die intrinsische Motivation für die Aufgabenstellung nicht zerstört. Wichtig ist auch das Übermitteln des «Big-Pictures», damit verstanden wird, wie mit Kreativität Wert für das Unternehmen geschaffen wird (S. 38-40).
Kreativität sollte einem gewissen Mass an Controlling unterworfen werden, um die Unternehmensziele erreichen zu können. Es gilt hier die Balance zu bewahren.
Die eigene Erfahrung im Umgang mit Kreativität zur Komplexitätsbewältigung hat gezeigt, dass es kulturbedingt ein sehr langer Weg sein kann, Kreativitätsphasen als einen Teil der digitalen Produktentwicklung zuzulassen. Kreativität wird oft als unproduktiv angesehen, was es aus wirtschaftlicher Betrachtung zu vermeiden gilt. Dies wird durch fehlendes Controlling der Kreativarbeit auch noch bestätigt, wenn die entstandenen Entwicklungen keinen Erfolg auf dem Markt mit sich bringen.
Bei uns wird durch Einreichen eines Innovationsantrags versucht, die Konzeptidee und die umliegende Situation visualisiert darzustellen. Somit wird frühzeitig das «Big-Picture» sichtbar. Für den weiteren Entwicklungsverlauf der digitalen Produkte werden zudem Rahmenbedingungen geschaffen. In der Problemverständnisphase entsteht auch der erste Prototyp. Hier wird das komplexe Umfeld durch Kreativität des interdisziplinären Teams im Prototyp berücksichtigt. Damit die Unternehmensziele im Fokus stehen, werden Zielsetzungen definiert und anhand einer Prototypenpräsentation überprüft.
Es zeigt sich, dass eine kreative Organisationskultur, vor allem in der Prototypphase, mit komplexer werdendem Umfeld verständnisvoller umgehen kann. Durch Zielsetzungen, gepaart mit einem «Big Picture», werden die Teams motiviert, und die Unternehmensziele können durch kundenorientierte Lösungen erreicht werden.
Quellen Kanton Glarus. Landsgemeinde. Abgerufen am 05. 06 2020 von https://www.gl.ch/landsgemeinde.html/216 Grabner, I. & Speckbacher, G. (2018). Kreativität managen. Controlling & Management Review, 62, S. 38-41. Kanton Glarus Landsgemeinde. Archiv. Abgerufen am 05. 06 2020 von https://www.landsgemeinde.gl.ch/archiv Lewrick, M., Link, P., & Leifer, L. (2018). Das Design Thinking Playbook. München: Verlag Franz Vahlen. Lewrick, M., Link, P., & Leifer, L. (2020). Das Design Thinking Toolbook. München: Verlag Franz Vahlen. Mahrenholz, S. (2011). Kreativität - Eine philosophische Analyse. Berlin: Akademie Verlag. Sonnenburg, S. (2007). Kooperative Kreativität in Organisationen. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag.