18. Oktober 2014

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Was wir vom Torwart lernen können

Wir kennen die Situation: Ein wichtiges Fussballspiel. In der Endphase ein Penalty, der zum entscheidenden Tor führen könnte. Der Schütze läuft an, der Torwart hechtet entschlossen und energisch in eine Ecke. Leider die falsche. Der Ball landet im Tor. Spiel verloren. Lichter aus.

Arminia Bielefeld v Energie Cottbus - 2. BundesligaPenalties sind heikle Entscheidungssituationen für den Torhüter. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Die Möglichkeiten, sich auszuzeichnen oder zu blamieren sind riesig. Er hat drei Optionen: in die linke oder rechte Ecke hechten oder einfach in der Mitte stehen bleiben. In 95% der Fälle springt er in eine Ecke. Das ist eigentlich erstaunlich, denn statistische Analysen zeigen, dass der Ball in knapp 30% der Fälle ziemlich genau in die Mitte des Tors geschossen wird. Wieso bleibt er denn nicht öfters einfach stehen?

Ein Tor zu erhalten tut weh. Wenn der Torwart sich in eine Ecke wirft, hat er das Gefühl, alles menschenmögliche getan zu haben um den Ball zu halten. Bleibt er einfach stehen, vermittelt er den Eindruck eines untenschlossenen Zauderers, der sich seinem Schicksal ergibt. Das tut doppelt weh: nicht nur hat er ein Tor erhalten, sondern er steht auch noch als Depp da.

Mit seinem Dilemma ist der Torhüter nicht alleine. Die Wissenschaft nennt das „action bias“: In schwierigen Situationen neigen Menschen dazu einfach mal zu handeln, statt ruhig zu bleiben. Das scheint evolutionsbiologisch in unseren Genen verankert zu sein: Wenn der Tiger faucht, ist stehenbleiben die falsche Strategie! Action-Filme brauchen Helden, die sich todesmutig engagieren. Staaten brauchen Führer, die zeigen, dass sie etwas für ihre Mitbürger tun. In Firmen kommen diejenigen an die Spitze, die Betriebsamkeit (um nicht zu sagen Hektik) versprühen und zeigen, dass sie dynamische Führer sind.

Viele Untersuchungen zeigen, dass das oft eine falsche Strategie ist. Zukunftsforscher haben eine schlechtere Trefferquote als der reine Zufall. Die Prognose „alles bleibt wie es ist“, wäre treffsicherer als die Expertenaussagen. Junge Polizisten, die in kritischen Situationen eingreifen, erreichen häufiger eine Eskalation der Situation als erfahrenere, die vorerst zuschauen und abwarten. Ärzte, die in ihrer Diagnose unsicher sind, verschreiben häufig irgendwelche Medikamente und Therapien, statt abzuwarten, bis die Situation geklärt ist. Aktive Börsenhändler schlagen kaum je über längere Zeit den Index.

Wir sind uns einig: Wandel ist die einzige Konstante und er ist heute schneller als je zuvor. Vielleicht ist es jedoch gar nicht so und wir nehmen uns auch einfach zu wichtig, haben den subjektiven Eindruck, wir lebten in der dramatischsten Epoche der Geschichte und beschäftigen uns selbst mit einer grossen Anzahl an Scheinaktivitäten und Hyperaktionitis.

Nicholas Taleb zeigt in seinem aktuellen Buch „Antifragilität“, dass Technologien, die seit 50 Jahren bestehen mit grosser Wahrscheinlichkeit auch in fünfzig Jahren noch bestehen werden. Von den jüngeren Technologien wird das meiste vom „Bullshit-Filter der Geschichte“ ausgesiebt werden. Die Zukunft in 50 Jahren dürfte mehr Ähnlichkeit mit heute haben, als wir annehmen.

Je stärker Menschen im Rampenlicht stehen, desto stärker wird der Drang zu handeln. Niemand will als Zauderer und Depp dastehen, der nichts unternimmt und dem Ball zusieht, wie er ins Tor fliegt, wenn Millionen von Menschen amFernseher oder via Zeitung oder Internet dabei zusehen. Jeder muss als starker Führer, Held oder Volksvertreter wahrgenommen werden, der etwas unternimmt.

Zwischen 1970 und 2000 wurde im Schnitt alle zwei Jahre eine Änderung im Zivilgesetzbuch vorgenommen, seither sind es drei bis vier jedes Jahr, Im Strafgesetzbuch war es pro Jahr eine, seit 2000 sind es vier bis fünf. Während sich die vermeintliche Immobilienblase bereits abkühlt, beraten Nationalbank und Politiker immer noch über weiteren Massnahmen. Zum Mieterschutz werden laufend neue Regulierungen ersonnen. Die negativen Effekte werden wiederum mit einem neuen Gesetz korrigiert. Allerdings: in Genf, das die höchste Regelungsdichte aufweist, ist das Wohnungsproblem am grössten. Eine hektische Scheinlösung jagt die andere, ohne dass innegehalten wird, um das Problem grundsätzlich zu überdenken. Nur weil etwas anders ist, heisst noch lange nicht, dass es besser ist. Die vermeintliche Fürsorge des Staates für seine Bürger bewirkt häufig das Gegenteil.

Wie kann diese Tendenz zur Hektik gestoppt werden? Durch eine Trennung von Wichtig und Unwichtig, einem bewussten Innehalten vor einer Entscheidung. Die richtige Reihenfolge wäre: Innehalten – Denken – Rennen, nicht umgekehrt, wie leider häufig beobachtet! Wie wär’s mit dem Lesen einer Wochenzeitung statt dem halbstündlichen checken von Facebook, eMail und News-Sites um damit den täglichen belanglosen Nonsense auszufiltern?

Auch im Geschäftsleben und der Politik wäre es durchaus angebracht, innezuhalten und nachzudenken, bevor wieder eine neue Vorschrift gefordert wird. „Betroffenheitspolitik“ führt selten zu guten Lösungen. Der Regulierungsdschungel etwa im Bauwesen ist mittlerweile so dicht, dass kaum mehr jemand den Durchblick hat, sich Vorschriften teilweise sogar widersprechen und Planungs-, Bewilligungs- und Bauprozesse unverhältnismässig teuer, langatmig und kompliziert geworden sind. Etwas mehr Ruhe und Gelassenheit würde gut tun.

(Dieser Beitrag erschien am 18.10.2014 als Kolumne in der Neuen Luzerner Zeitung)

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