14. Juni 2014

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Das Quartier wird zum Kraftwerk

Atomausstieg, Energiewende, 2000-Watt-Gesellschaft, Minergie: Die Energiespar-Diskussion beherrsch Medien und Fachwelt. Energieeffiziente Gebäude sind heute Standard. Photovoltaik und andere alternative Energieerzeugungsformen werden massiv gefördert und eingesetzt. Damit sind sogar  Plusenergie-Häuser möglich, die mehr Energie erzeugen als sie selbst verbrauchen.

Das Problem ist die fehlende Speichermöglichkeit für die erzeugte Energie. Sowohl Wärme als auch Elektrizität werden häufig nicht dann produziert, wenn sie gebraucht werden. Das führt zu grossen Netzschwankungen und absurden Situationen. So hat die Deutsche Bahn letzten  Sommer die Weichenheizungen angestellt und dabei sogar noch Geld verdient, weil die Strompreise aufgrund der zu hohen Netzlast negativ waren.

anergienetzDer Gebäudepark ist für über einen Drittel des Energieverbauches verantwortlich und steht damit speziell unter Beobachtung. Allerdings sind die Energieverbauchszeiten einzelner Gebäude sehr unterschiedlich. Büro- und Wohngebäude haben zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten sehr unterschiedlichen Elektrizitäts- und Wärme- / Kältebedarf. Wird deshalb die Betrachtung nicht mehr aufs einzelne Gebäude, sondern auf ein ganzes Quartier gelegt, ergeben sich grosse neue Potentiale.

Quartiere werden heute schon in Form von Fernwärmenetzen thermisch vernetzt. Das sind jedoch „Einbahnstrassen“:  ein Wärmeerzeuger (z.B. Kehrichtverbrennungsanlage) speist die Wärme in das Netz ein, die angeschlossenen Haushalte beziehen diese, können jedoch ihrerseits keine Überschussenergie ins Netz einspeisen. Um das Potential auf Quartierebene nutzen zu können, sind Netze notwendig, bei denen jedes angeschlossene Haus sowohl Energie beziehen, als auch überschüssige Energie einspeisen kann. Das ist problemlos möglich, wenn die Temperatur statt wie bisher üblich bei 70-80 Grad lediglich bei 8-18 Grad liegt. Damit kann das zirkulierende Wasser einerseits direkt zum Kühlen und andererseits mit Wärmepumpen auch zum Heizen verwendet werden. Jedes einzelne Gebäude kann somit zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Rollen spielen: manchmal ist es Energieproduzent, dann wieder Verbraucher für Überschussenergie vom Nachbargebäude und zwischendrin Energiespeicher.

Ein solches sogenanntes Anergienetz kann mit einem Speicher aus Erdsonden ergänzt werden. Damit wird durch Tiefenbohrungen das Erdreich als Speichermedium genutzt. Im Gegensatz zu den verbreiteten Erdsondenheizungen, die der Erde Energie entziehen um zu heizen, kann der Prozess zusätzlich umgekehrt werden, so dass die Wärmepumpen, quasi „im Rückwärtsgang“, Wärme ins Erdreich abgeben. Damit wird ein Speicher geschaffen, der in der Lage ist, saisonale Schwankungen zu überbrücken. Wärme wird damit längerfristig speicherbar.

Im Elektrizitätsbereich ist heute schon die Netzeinspeisung von überschüssiger Energie möglich. Dadurch entstehen jedoch grosse Belastungsschwankungen, welche durch eine Arealvernetzung abgedämpft werden können. Mit intelligenter Gebäudetechnologie wird es nun möglich, Geräte so zu steuern, dass sie die Netzbelastung miteinbeziehen und Wärme- und Kälteaggregate oder auch Kühlschränke, Boiler, etc. dann  laufen, wenn Strom im Überschuss vorhanden ist. Wird dies auf Quartierebene mit dem Anergienetz kombiniert, kann auch in unseren Breitengraden eine CO2-freie Arealversorgung erreicht werden.

Die Grossüberbauung Suurstoffi in Rotkreuz wurde nach diesem Prinzip gebaut. Dank dem Einsatz intelligenter Technik wird das gesamte Quartier ohne CO2-Emmissionen und schadstoffrei betrieben. Die durch die Raumkühlung im Sommer entstehende Abwärme wird im Erdreich gespeichert, wo sie im Winter wieder zur Heizung zur Verfügung steht. Photovoltaikanlagen auf den Dächern, gepaart mit  intelligenten Lösungen wie z.B. Energierückgewinnung bei den Liftanlagen sorgen für eine weitgehende Selbstversorgung. Ähnliche Lösungen werden zur Zeit auf dem ETH-Areal verwirklicht oder für das V-Zug-Areal geplant.

Nicht nur bei Neubauten, sondern auch im Bestand sind diese Konzepte umsetzbar. Die Gemeinde Brig-Glis hat zum Beispiel die entsprechenden Potentiale erhoben und plant nun den Bau eines Anergienetzes innerhalb der Stadt, an das die Gebäude angeschlossen werden können.

In Deutschland mit seinen vielen Solar- und Windkraftanlagen zeigt sich, dass mit einer dezentralen, quasi demokratischen Strom- und Wärmeerzeugung und –verteilung die Gewährleistung der Netzspannung zu einer Herausforderung wird. Gebührenmodelle und politische Rahmenbedingungen für die Energielieferung und das Bereitstellen der Netze müssen neu definiert werden, ebenso die Rollen der heutigen grossen Versorger.

Insbesondere ist jedoch ein Perspektivenwechsel bei der Systemplanung erforderlich, indem der Fokus nicht mehr nur auf die Komponenten und Häuser gelegt, sondern areal- und quartierbezogen gedacht wird. Die Potentiale sind enorm. Und das gute ist: Es muss nicht gewartet werde, bis „Bern“ etwas beschliesst. Landeigentümer, Kommunen und Planer sind gefordert, damit die Energiewende gelingt.

Dieser Artikel erschien am 14.6.2014 als Kolumne in der Neuen Luzerner Zeitung.

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